Überwindet man für einen kurzen Moment die Verachtung gegenüber der DB und
den Mitreisenden, so werden einem einige wundersame Beobachtungen zuteil
Von Anna Kaufmann
Tagelang höre ich in den Nachrichten von den überfüllten Zügen und kann mich vor Memes nicht mehr retten. Manche verzichten ganz auf den 9 Euro-Spaß, weil – dauert zu lange, zu voll.
Die Weichen quietschen und ächzen unter der Last der Leute. Der Wagon ist richtig voll. Ich habe keinen Sitzplatz gefunden, also stehe ich. Aber ich fühle mich zwischen all den Leuten ziemlich
am Leben. Und ich freue mich ehrlich über all die Leute, die jetzt zwischen den Städten hin- und herreisen, und die ohne das 9 Euro Ticket nicht unterwegs gewesen wären. Nach Sylt schaffe ich es
zwar nicht, aber bei dem Gedanken an die Sylt-Urlaubfahrer, die Angst davor haben, dass Sylt überrannt wird, muss ich lachen. Auch wenn die Veränderung noch so klein sein mag, und mehr zur
Bespaßung als zu einem echten Ausgleich sozialer Ungleichheit dient, das 9 Euro Ticket finde ich schon jetzt gut.
Ich muss lachen über die Jungen, die angefangen haben, den Zugmittelgang und die Deckenstange, die
eigentlich zum Festhalten gedacht ist, als Klettergerüst zu benutzen und ihren kleinen Bruder „habibi“ nennen. Ihr Vater ruft ihnen „Jungs“ zu. Und finde den Anzugsträger super unsympathisch, der die Jungs zur Schnecke macht. Der Vater drückt den Jungs das Handy in die Hand. Menno, denke ich,
da wurde jeder Bewegungsdrang mal wieder unterbunden, weil ein Anzugsträger
es nicht aushalten kann, dass ein bisschen getobt wird. Als wir immer weiter von Bayreuth wegfahren, muss ich daran denken, wie seltsam es ist, dass es im Kanapee einen Drink gibt, der Kaiserreich, dass das Kulturhaus in der Stadt Reichshof heißt. Und wie oft ich schon in diesem Zusammenhang Witze über das ‚Deutsche Reich‘ gehört habe. Ja, alles soo witzig. Ich finde es gar nicht cool, aber Spielverderberin will ja niemand sein. Also halte ich die Klappe. Bei den Besitzern habe ich mich nie beschwert. Theoretisch heißt das Bundestagsgebäude ja auch Reichstag. Namensähnlichkeit ist da eher zufällig. Ich muss zugeben, ich war ein bisschen skeptisch, als ich nach Bayern zog. Gibt es hier wirklich nur CSU-Mitglieder? Bayreuth ist ganz anders als ich gedacht habe. Ich bin wirklich positiv überrascht. Die Uni ist extrem weltoffen, im Iwalewahaus immer etwas los. Aber es gibt noch einiges zu tun. Manchmal mehr als anderswo.
Haltestelle München Hauptbahnhof. Das ist also die Stadt, in der BMW seinen Firmensitz hat. Sieht man, denke ich. Ich sitze mittlerweile auf dem Boden des überfüllten Zugs. Macht mir aber
nichts aus. Ich sehe nur Schuhe. Glänzend weiße Sneakers. Nike Air Force One. Nie getragen. Ich steige aus. Wow, echt grün und hat ein bisschen Italien-Flair. Mag ich, muss ich mir widerwillig eingestehen. Ich bin auf dem Weg zu einem Second-Hand Shop. Als ich zurück zum Hauptbahnhof gehe, esse ich einen Döner. Ich höre jemand die arabischen Wörter „wakt“ und „chamsa“ sagen. Es dämmert. Stimmt, es ist schon fast fünf. Mag ich noch mehr. Es fühlt sich nach zu Hause an, wenn jemand eine andere Sprache
als Deutsch spricht. Es betoniert die Stadt nicht fest in eine Kultur.
Am Bahnsteig drängen sich die Menschen. Ich sitze neben einer Frau, die ihre überbackene Käsestange isst. Ihr Pullover ist schlapprig und bedeckt ihren Bauch, ihre Haare etwas strähnig. Sympathisch
denke ich, jemand der bestimmt nichts gegen abgewetzte Vans hat. Ich scrolle durch mein Instagram Feed,
perfekt eingerichtete IKEA-Apartments, ein Instagram Model, das auf einer Yacht posiert. Als mir langweilig wird, hole ich mir eine Ausgabe irgendeiner Regionalzeitung. Ein Dossier über
Mohammed, 52. Er hat perfekt Deutsch gelernt – innerhalb von nur einem halben Jahr.
Zuvor hatte er eine Tischlerwerkstatt und einen Garten, jetzt lebt er mit seiner Familie eingequetscht in einer zwei Zimmer-Wohnung. Seine Tochter, 20, hängt an BAföG, Nebenjob und Medizinstudium, ein typisches Arbeiterkind also. Irgendwie etwas eindimensional, ihre Erfahrungen als Erfolgsgeschichten der Integration und des sozialen Aufstiegs zu verkaufen. Ich blinzle ein bisschen und erhasche einen
Blick zu den freischwebenden Deckenstreben des Münchner Hauptbahnhofs. So, als ob Leistung oder Talent tatsächlich alles aufwiegen könnte und als ob Leistung der Grund dafür wäre, dass
manche Menschen mehr und andere Menschen weniger haben. F* Rich Tears.
This is life. Ich muss einsteigen. Meine nächste Seminararbeit schreibe ich aber über Systemtransformation.
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