Von Besinnung und Vorsätzen

In einer “zunehmend säkularisierten” Gesellschaft, welche sich als “liberal” versteht, daher Diversität gewährt und somit Inklusion Anspruch ist, wird zwar die Winterpause samt ihren Feiertagen strukturell aufgezwungen, schon lange aber nicht mehr deren individuelle Ausgestaltung. Nichts an dem bisher Gesagten entspricht so ganz der Wahrheit, ganz besonders nicht um Weihnachten. Ich schlage daher vor die, drückende Erwartung die Weihnachtstage in heimischer, familiär liebender, kulinarisch aufgeblähter Atmosphäre zu verbringen zu ersetzen mit dem in der lieblichen Floskel “Ich wünsche dir eine besinnliche Weihnachtszeit” verhüllten Zwang zur Betätigung der Vernunft, der umfassenden Reflexion, der Besinnung eben. In welchem Umfeld man dies tut, das vermag dieser pluralen Gesellschaft wahrlich nicht diktiert zu werden. 

Ein schöner und doch passender Zufall also, dass just nach dieser Zeit der Besinnung ein neues Kalenderjahr einlädt, die gelierte Besinnungsmasse Theorie in starre Tat umzusetzen. Die beliebtesten Vorsätze, so weiß man – Empirie sei Dank – beziehen sich dabei alle unmittelbar auf das Ich: mehr Sport, gesündere Ernährung, Abnehmen. Das ist schlüssig, denn Kern menschlicher Erfahrung ist unser individuelles Handlungsbewusstsein, das heißt unsere Fähigkeit auf die Welt einzuwirken und uns der Wirkung unserer Handlungen gewahr zu werden. Mit der Arbeit an sich selbst ist man dabei in der einzigartigen Doppelrolle des Handelnden und Behandelten zugleich. Das Problem an dieser doch sehr effizienten Anwendung der Handlungsfähigkeit im Privaten ist, dass es eben diese Fähigkeit ist, die den Menschen zu einem politischen Wesen erhebt. „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt“ mit der Geburt an sich werden wir in die Welt „geworfen“, durch das Handeln wird der Samen dieser Welt in uns Fremde selbst gepflanzt und so greifbar. Resonanz und somit eine Art positive Aneignung der das Ich umschließenden Lebenswelt ist die Belohnung für erfolgreiches Handlungsbewusstsein.  

Genau diese Ermöglichung der Aneignung darf nicht die Ausnahme sein, sondern muss die Norm werden. Ein integraler Schritt dazu und daher ein Vorschlag als Neujahrsvorsatz – lieber aber noch als Allsatz – weniger Kapazitäten in die Bereitschaft, sich selbst zu transformieren vergeuden und mehr Raum und Offenheit gewähren für die Transformation des das Ich umgebenden Systems. Damit soll nicht Apathie, und auch nicht blinde Euphorie für jeden Wandel nahelegt werden, aber eben doch die verzerrende Antipathie gegenüber dem Prinzip der Veränderung selbst abgebaut werden. Die Transformation des “Ichs” ist die Norm, doch Transformation der Umgebung führt zumeist nur zu negativer Erregung. Denn während das zerbrechliche Ich mit konsequent harter Hand über sich selbst richtet und zufriedenen Stillstand verunmöglicht ist das Urteil über die das Ich umgebende Lebensrealität von einer verstörenden Milde mit einer sanften Brise Konservatismus geprägt.  

Die bekannte Lebensrealität legitimiert sich hier nicht selten bereits über das Faktum der Existenz selbst, während das “Andere” dem Donnergrollen reaktionärer Kräfte ausgesetzt ist. Dieses Donnergrollen ist nicht falsch, es ist viel mehr löblich, doch es ist nicht verhältnismäßig. Während das “Neue” als zur allgemeinen Disposition präsentiert wird und somit mit dem Sammeln und Herausarbeiten von Sorgen, Risiken und Chancen befruchtet werden könnte, wird der eröffnete Diskurs häufig von einflussreichen, konservativen Kräften der Öffentlichkeit bereits im Keim erstickt. Man mag hier an die frohlockenden, die Gesamtheit einer diversen Bewegung, diskreditierenden Hetzparolen aus Politik und Feuilleton erinnern in Reaktion auf das retrospektiv nicht haltbare Beitragen der Letzten Generation zur misslungenen Bergung einer verunglückten Radfahrerin. Gewiss, die Mittel, mit welchen die Letzte Generation Wandel induzieren möchte, sind aus vielerlei Hinsicht kritisierbar. Die entscheidende Frage zu der übergeordneten Bewertung ist, ob die liberale Demokratie im heutigen Zustand zu dem geforderten Wandel (Tempolimit + 9-Euro-Ticket) im Speziellen bereit ist, vor allem aber, ob sie im Allgemeinen fähig ist, grundlegenden Wandel zu legitimieren. Es ist unbestreitbar, dass ein „Weiter-So“ weder gewollt noch gelingen kann. Energiekrise, demographischer Wandel, Klimawandel, Krieg und die Entrechtung der Menschenrechte. Dem „Weiter-So“ wird dogmatisch Stabilität eingehaucht, der Status quo ist jedoch nie etwas ursprünglich Natürliches, sondern auch immer eine Entscheidung, die einst getroffen wurde. Status quo beschreibt eben nicht einen Schwebezustand der Unentschiedenheit, sondern das Voranpreschen eines eingeschlagenen Pfades und somit immerzu eine aktive Entscheidung samt Konsequenzen. Deswegen ist die Naturalisierung des Status quo ein herber Irrglaube, welcher diesen Dogmatismus ermöglicht und das Potential des Wandels verunmöglicht. Wo Politik und Dogmatismus in einem Atemzug fällt, kann nicht Demokratie herrschen. Doch wenn Demokratie heute Stillstand bedeutet, Stillstand aber Demokratie verunmöglicht, wäre dies zweifelsohne eine Krise. Diese Diagnose ist überzogen, gewiss, denn es gibt ihn, den demokratisch legitimierten Wandel, doch dieser ist weder qualitativ noch quantitativ zufriedenstellend. Noch aktiver und präziser muss der Status quo analysiert, bei Möglichkeit validiert und bei Notwendigkeit kritisiert werden. Doch es darf hier nicht enden, denn auf die Kritik muss die Utopie folgen, und auch dieser muss mehr Raum gegeben werden, um präzisiert, kritisiert und operationalisiert werden zu können.  

Die Bereitschaft zur Transformation führt nicht zwingend zur Transformation, der Unwillen jedoch bedeutet die dogmatische Fortführung der Herrschaft des Status quo. Daher ein Appell: Macht die Türen auf, macht die Herzen weit und verschließt euch nicht, es ist Weihnachtszeit. 

Lukas Baderschneider
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