Boykott Qatar

Über die absurdeste Weltmeisterschaft der Geschichte und wie mit ihr umzugehen ist.

Die Tage werden kürzer, das Laub fällt von den Bäumen und während man Nürnberger Christkindlglühwein trinkt, um noch ein paar Tage länger auf die Heizung zu verzichten, fällt einem auf, was einem jetzt gerade wirklich gefehlt hat: Die beste Fußballweltmeisterschaft der Geschichte! Klar kann man Ende November auch die ersten Skiweltcups auf schneemaschinengemachten Pisten verfolgen, aber viel stimmungsvoller ist um diese Jahreszeit doch ein Fußballturnier, live vom Persischen Golf. Ungünstigerweise wird die nachvollziehbare Vorfreude auf das größte Sportevent des Jahres von einigen pessimistischen Spielverderbern getrübt, die es wagen, den Fußball zu einem Politikum zu machen und behaupten, die Weltmeisterschaft sei nicht unterstützenswert. Das ist natürlich völlig hanebüchen und dieser Artikel soll denjenigen, die ernsthaft in Erwägung ziehen, Katar 2022 zu boykottieren, dabei helfen, ihre Zweifel zu überwinden und mit Inbrunst dem Finale in Doha entgegenzufiebern.


Die FIFA, eine tugendhafte Organisation


Als aufgeklärte Konsumentinnen des 21. Jahrhunderts, wissen wir um unsere Verantwortung, wenn es darum geht Firmenumsätze und Einschaltquoten zu beeinflussen. Bevor man also am frühen Dienstagnachmittag das Spiel Dänemark – Tunesien einschaltet sollte man einen Moment innehalten und sich fragen, ob man die Federation Internationale de Football Association, die für die Vergabe des Austragungsortes und der Bildrechte verantwortlich ist, unterstützen möchte. Klar, dass der Gastgeber der letzten Weltmeisterschaft inzwischen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, klingt erstmal schwierig. Aber das war nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim auch wirklich unvorhersehbar. Weiterhin ließe sich anmerken, dass in den letzten Jahren der wohl häufigste Gast in der Züricher Zentrale des „gemeinnützigen Vereins“ die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft war. Der Grund dafür dürften offene Fragen bezüglich der Vergabe vergangener Turniere und der Bezahlung leitender Posten innerhalb der Organisation sein. Trotzdem sollten wir auf den Panama Paper-Inhaber und FIFA-Vorsitzenden Gianni Infantino hören, der fordert, sich jetzt doch bitte sehr auf den Fußball zu konzentrieren . Quatar, „good times guaranteed“ Der Gastgeber der WM ist Katar. Seit diesem Frühjahr ein wichtiger Außenhandelspartner der Bundesrepublik, da Deutschland in Zukunft nur noch Energiequellen aus Ländern bezieht, in denen Menschenrechte großgeschrieben werden. Wenn sogar die Bundesregierung keine Probleme damit hat, Flüssiggas aus Katar zu importieren, dann sollte man das Emirat ergo reinen Gewissens als Fußballfan unterstützen können. Auf der offiziellen Website wird den Besuchern des Turniers außerdem eine gute Zeit garantiert, spätestens jetzt sollte es keine Bedenken mehr geben. Nun ja, wie „gut“ die Zeit ist, die man als Besucher in Katar genießt, hängt durchaus davon ab, welchem Geschlecht man zugehörig ist, welche sexuelle Orientierung man hat und ob man den Rat von Infantino befolgt, sich nicht mit lästiger Politik zu beschäftigen. Würde man zu viel zum Stand der Rechte der LGBTQ Community recherchieren, käme einem sicherlich der Plätzchenteig hoch, den man in der Halbzeitpause anrührt. Zum Glück wird die Nationalelf Armbinden in Regenbogenfarben tragen, die zwar nichts mit der Pride Flagge zu tun haben, aber ein extrem positives Signal an die queere Community Katars aussenden.


Reformierung der Arbeiterrechte


Durch die sozialen Medien und auch in den Stadien der Bundesliga geisterte zuletzt die Zahl „15.000“. So viele Todesopfer forderte die Konstruktion der Stadien in den vergangen zehn Jahren. Wenn man das hört, rutscht einem glatt der Paninisticker-Adventskalender aus den Händen, doch dass Amnesty und Bundesligafans die verstorbenen Gastarbeiter*innen aus Ländern des globalen Südens derartig instrumentalisieren, ist selbstverständlich blanker Populismus. Zugegebenermaßen, es sind im Rahmen der Bauarbeiten fast dreimal so viele Menschen ums Leben gekommen als die WM Spielminuten hat. Aber was dabei unter den Tisch gekehrt wird, ist dass aufgrund der gesteigerten Aufmerksamkeit im Rahmen der WM, die Arbeitsrechte reformiert wurden und man in Zukunft nur noch mit viel Mühe Menschen unter sklavenähnlichen Verhältnissen anstellen darf, um klimatisierte Arenen in die Wüste zu stellen. Ob man einem Land, in dem das Kafala System (System, in dem Arbeits- und Aufenthaltsrecht *jedes/r ausländischen Arbeitnehmerin an eine Person gebundne ist) gilt, vor diesen Reformen die Übertragung des größten Fußballturniers der Welt zu Recht vergeben hat, ist eine Sache zwischen Sepp Blatter und seinen Geldgebern und muss uns Fußballliebhaberinnen nicht interessieren. Leider ist die Welt voller Zweifler, die nicht die Visionen großer Sportfunktionäre nachvollziehen können. Beispielsweise Professor Wolfgang Meannig von der Universität Hamburg, der den Zusammenhang zwischen sportlichen Großveranstaltungen und Indikatoren wie Pressefreiheit oder Arbeitsrechten untersucht hat und keine Korrelation feststellen konnte4. Aber auch der beste Wirtschaftswissenschaftler der Welt kann nicht in die Zukunft blicken und diesmal wird sicher alles anders, insofern ist auch dieser Punkt unbedenklich für treue Fußballfans.

Doppelmoral


Wer immer noch nicht überzeugt ist, dem seien die Worte von Sheikh Mohammed bin Abdulrahman Al-Thani ans Herz gelegt. Katars Außenminister kann ausverkaufte Stadien als Beleg für eine WM auf die sich alle freuen, vorweisen. Er wirft zudem den Befürwortern des Boykotts mit einer unbestechlichen Logik doppelte Standards vor: In Europa würde man die „Fehler“, so sein Euphemismus für die nicht von der Regierung anerkannten Opfer, den beauftragten Unternehmen ankreiden und nicht den Regierungen, die diese beauftragt hätten5. Wohl wahr, wer erinnert sich nicht an den Diskurs um den Bau des BER oder von Stuttgart21, die sich zu Null Prozent an die verantwortlichen Politikerinnen gerichtet hat. Aber das außenpolitischen Ansehen Katars wird nicht nur von Herrn Al-Thani verteidigt, auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel springt für den Golfstaat in die Bresche. Er warf vor kurzem auf Twitter den Deutschen WM-Kritikerinnen Arroganz vor, denn auch in Deutschland sei Homosexualität bis 1994 noch strafbar gewesen und der Weg zu einer liberalen Demokratie kein leichter 6. Es leuchtet ein, dass die späte rechtliche Emanzipation queerer Menschen in Deutschland öffentliche Auspeitschungen und andere Menschenrechtsverletzungen bis zum heutigen Tage anderswo rechtfertigt und dass die Anbiederung an eine Regierung, die diese Taten ausführt, zu einer Verbesserung
der Situation führen muss. Sollte man sich für den Genuss des Halbfinales am zweiten Advent rechtfertigen müssen, werden diese Argumente sicher jeden Skeptikerin abfertigen.

Es ist angerichtet


Möglicherweise sind nicht alle bisher aufgeführten Argumente komplett wasserdicht und die Propaganda der Boykott Befürworter hat euch bereits für sich eingenommen. Kein Problem, denn die Sache ist bereits entschieden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat schon 214 Millionen Euro für die Übertragungsrechte ausgegeben7. Selbst wenn alle eure Lieblingskneipen sich aus Gründen des moralischen Anstands dazu entscheiden, kein Public Viewing zu veranstalten, werden die Redaktionen von ARD und ZDF sicher nicht ihr Programm ändern. Wanda, Vivo, Adidas, Coca-Cola etc. pp stehen als Sponsoren und wissen, das auch diese Weltmeisterschaft nichts an ihrer Reputation ändern wird, da empirischen Untersuchungen nahelegen, dass Konsumboykotts nicht funktionieren, wenn sie nicht als breit angelegte Graswurzelbewegungen organisiert sind8. Es gibt keine Mannschaft und keinen Verband, der ernsthaft mit einer Absage gedroht hat, nur in Norwegen gab es eine ablehnende Abstimmung, die sich aufgrund der Nicht-Qualifikation Norwegens jedoch sowieso erübrigt. Es wird auch keine Spieler geben, die sich gegen ihre Mannschaft, gegen ihre Verbände und gegen ihre Verträge stellen werden, auch wenn es zurzeit zu vielen Lippenbekenntnissen kommt und man stets beteuert, die Vergabe an Katar hätte nicht stattfinden dürfen, was angesichts der ökonomischen Zwänge denen Profifußballer ausgesetzt sind, absolut nachvollziehbar ist.


Wenn also ab dem 20. November nicht nur Last Christmas durchs Winterdorf tönt, sondern auch Bela Rethy aus
Doha berichtet, dann hat man quasi keine Wahl, als sich dem Spektakel der absurdesten Fußballweltmeisterschaft
der Geschichte zu ergeben, ausgetragen auf den Särgen von Gastarbeiter*innen, finanziert durch fossile Brennstoffe
und eingefädelt von einer durch und durch korrupten Organisation.
Viel Spaß beim Zuschauen und einen gesegneten Advent!

Quellen:

1 https://www.reuters.com/lifestyle/sports/fifa-pleads-with-world-cup-nations-focus-football-qatar- 2022-11-04/
2 https://inews.co.uk/news/qatar-officials-gang-raped-gay-world-cup-hosts-lgbt-people-1949447
3 https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022
4 fehttps://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/wm-katar-fifa-ioc-diktaturen-100.html
5 https://www.lemonde.fr/international/article/2022/11/04/la-coupe-du-monde-au-qatar-est-comme-n-importequel-
evenement-sportif-dans-le-monde_6148433_3210.htm
6 https://twitter.com/sigmargabriel/status/1586300752816848896
7 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/381252/umfrage/ard-zdf-kosten-uebertragung-fussball-wm/
8 https://www.theguardian.com/vital-signs/2015/jan/06/boycotts-shopping-protests-activists-consumers