Alle (vier) Jahre wieder

Deutsche Autos zu WM-Zeiten (Symbolbild). Grafik: Hanna Martensen

Wenn die WM auf die Erde niederkommt, kehrt gleichermaßen die altbekannte Diskussion über Hymnen, Deutschlandfahnen und Patriotismus in jedes Haus ein.

von Marius Hörst

Warum diese Diskussion anstrengend und doch wichtig ist.

Die designierte Startelf läuft ein, reiht sich auf und steht mit Armen hinter dem Rücken verschränkt. Die dritte Strophe wird angestimmt, die Kamera schwenkt von rechts nach links. Eine ganze Nation mustert die Mundwinkel ihrer Spieler. Erleichterung macht sich breit – beim letzten Spiel gegen England sangen alle elf Spieler samt Trainerteam, mal mehr, mal weniger textsicher die Hymne mit. Eine Diskussion, die wir beinahe zu jeder WM führen: Sollten die Spieler der Nationalmannschaft bei ihren Nationalhymnen mitsingen?

Die BILD titelte im Jahr 2010 sogar „Wer nicht mitsingt, sollte rausfliegen!“. Es war damals klar, dass sie damit auf Özil anspielten. In der Folge forderte so mancher Politiker oder ehemaliger Nationalspieler, das Singen der Nationalhymne verpflichtend zu machen. Doch, würde die Pflicht zur Hymne nicht das verkennen, was wir so euphorisch in ihr besingen – die Freiheit? Insofern erscheint es absurd, das zu fordern und den Spielern nicht die Möglichkeit zu geben, ihrer Verbundenheit mit dem Land, dessen Trikot sie tragen, nach ihrem Willen Ausdruck zu verleihen.

Freiheit ist allerdings keine Einbahnstraße. Es sollte anderen genauso zugestanden werden, sich zu Haydns Melodie zu erheben. So mancher nutzt ja auch die Außenspiegel seines Autos zur Proklamation der Sympathien für „Die Mannschaft“. Wenn dann noch die schwarz-rot-goldene Flagge, unbeholfen am Autofenster befestigt, bei 200+km/h im Fahrtwind weht, ist der deutsche Traum perfekt.

Meistens muss man sowieso nur nach draußen gehen, um zu wissen, dass WM ist.

Meistens muss man sowieso nur nach draußen gehen, um zu wissen, dass WM ist. Das ganze Land taucht seine Autos in Nationalfarben, singt die Hymne und schminkt sich sogar die Backen schwarz-rot-golden. Was in den USA, unabhängig von irgendwelchen Sportereignissen, ganz normal ist, wird in Deutschland zu Nicht-WM-Zeiten eher belächelt und zuweilen politisch rechts der CSU eingeordnet. Natürlich haben Deutsche vergangenheitsbedingt ein anderes Verhältnis zu ihrer Nation, als es beispielsweise die USA oder Frankreich haben, trotzdem sollte das Ganze nicht als „Party-Patriotismus“ abgetan und mit der Begründung, Nationalisten könnten sich diese Symbole zu Eigen machen, verunglimpft werden.

Der Fußball beziehungsweise die Symbole, die in ihm Verwendung finden, sind nicht der Ursprung des Nationalismus. An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich, Patriotismus und Nationalismus zu definieren. Johannes Rau formulierte es mal treffend: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“

Man kann also konstatieren, dass der Nationalist und der Patriot sich in der Art ihrer Abgrenzung zu anderen Nationen unterscheiden. Somit sollte der Patriotismus per se nichts Negatives, erst recht nichts Ausgrenzendes, sein, womit wir wieder am Anfang wären. Denn wenn wir nur zu WM-Zeiten darüber reden, wie sich das Verhältnis zum eigenen Land darstellt und darüber hinaus mit der positiven Konnotation des Wortes „Patriotismus“ fremdeln, laufen wir Gefahr, das eigentlich Wichtige aus den Augen zu verlieren, nämlich die Antwort auf die Frage „Wie sieht ein deutsches Nationsverständnis aus?“ zu finden.

Meist verhakt man sich am Ende leider im Kleinklein der Gesänge und Symbolik. Wieso diese Diskussion anstrengend ist, ist folglich ziemlich einfach zu erkennen – sie ist redundant und führt, so meint man, zu nichts.
Wieso aber ist sie wichtig? Weil sie eine entlarvende ist, denn es lassen sich dank ihr zwei Gruppen identifizieren: Menschen, die andere auffordern, sie müssen ihrer Verbundenheit mit dem Land, in dem sie leben, nach einem vorgefertigten Muster verleihen und Menschen, die anderen nicht zugestehen, hierfür nationale Symbole zu verwenden. Beide Gruppen haben gemein, dass sie „Non-Compliants“ diskreditieren und ein sie nicht einschließendes Gefühl von Gemeinschaft etablieren möchten. Sie sind also nicht für die Entwicklung eines gemeinsamen „Staatsverständnisses“, das bereits in Habermas‘ „Verfassungspatriotismus“ begründet liegen könnte, zu
gebrauchen.‘

Hätte die Ukraine keine gemeinsame Vorstellung von ‚ihrer‘ Ukraine, verkämen ihre Soldaten zu Einzelkämpfern und der Krieg wäre wesentlich aussichtsloser.

Mit der realen Bedrohung durch eine kriegerische Auseinandersetzung bekommt das Thema dann eine ganz andere Wendung. Man kann recht einfach am Beispiel der Ukraine sehen, dass es Extremfälle gibt, in denen ein gemeinsames Nationsverständnis sehr wichtig ist und doch zur Abgrenzung zu anderen – im Wesentlichen Feinden der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Völkerrechts – benötigt wird. Hätte die Ukraine keine gemeinsame Vorstellung von „ihrer“ Ukraine, verkämen ihre Soldaten zu Einzelkämpfern und der Krieg wäre wesentlich aussichtsloser.

Ein gemeinsames Fundament bei den Deutschen lässt sich indes ziemlich einfach ausmachen: Sowohl das Weihnachtslied, auf das im Titel angespielt wird, als auch die deutsche Nationalhymne sind im Kern der Feder August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens entsprungen. Wenn es Ende des Jahres dann heißt „Einigkeit und Recht und Freiheit…“, können wir uns beim Singen (oder nicht) einmal fragen, wofür diese Worte überhaupt stehen, denn dass das Christuskind „auf die Erde niederkommt“, wird ja wohl wirklich niemand mehr glauben.

Marius Hoerst
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