„Das Internet ist für uns alle Neuland“ proklamierte Kanzlerin Merkel bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Obama im Jahr 2013. Sowohl Merkel als auch Obama gehören der Vergangenheit an, die humoristisch vielfach durch den Fleischwolf gedrehte Phrase hingegen bleibt hochaktuell. Selbiges gilt nun “plötzlich” auch wieder für Jürgen Habermas und dessen 1962 erschienene legendäre Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. An diese schließt sich nun 60 Jahre später ein kleines Nachfolgeheftchen an, mit welchem die Theorie des Klassikers in die digitale Gegenwart transponiert wird. Der neue Strukturwandel hat 108 Seiten, und somit immerhin weniger als ein Drittel des „Alten“. Realistisch sind dies aber trotzdem mindestens 100 Seiten zu viel, für uns kurz angebundene Dopamin Kicker. In den folgenden 4 Seiten soll der Versuch unternommen werden, 500 Seiten verständlich zu servieren und kritisch einzuordnen.
Etymologisch taucht der Begriff der Öffentlichkeit in Deutschland erstmals im ausgehenden 18. Jahrhundert auf. In dieser Frühphase der Öffentlichkeit kommt es vor allem zu einem zunehmenden öffentlichen Interesse an der privaten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft. Eine öffentliche Gesellschaft entsteht jedoch noch nicht. Öffentlichkeit dient noch nur zur Erfüllung repräsentativer Zwecke, wie Herrschaft, Status und Attribute im Lichte des Publikums. Herrschaft wird nicht für das Volk öffentlich präsentiert, sondern vor dem Volk. Man könnte auch sagen, es galt der Spruch “das Private ist öffentlich und das Öffentliche absolut”, in Anbetracht feudal-absolutistischer Gesellschaftsordnungen. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit bahnte sich jedoch bereits an.
Habermas Ausgangspunkt dieser neu entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit im späten 18. Jahrhundert ist die sich ausweitende Privatheit. Diese private Autonomie entsteht jedoch erst mit dem sukzessiven Niedergang des Feudalismus im einhergehenden merkantilistischen und dann zunehmend kapitalistischen Wirtschafts- und Handelssystem. Es entsteht ein horizontales Abhängigkeits- und Informationsnetz durch Handel und Briefverkehr zwischen autonom agierenden Privatleuten und somit eine “öffentlich relevant gewordene Privatsphäre”. Zugleich entsteht mit der parallelen Etablierung von Nationalstaaten und nationalen Regierungssystemen die neue Sphäre der öffentlichen Gewalt in Form von Verwaltung und Militär. Öffentlich ist hier gleichbedeutend mit staatlich. In diesem so entstehenden Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft bildet sich die bürgerliche Öffentlichkeit heraus. Diese neumündigen, und sich dessen bewussten, Bürger treten somit de facto aus dem Schatten des eigenen Wohnzimmers in die umtriebigen Salons und Kaffeehäuser der Stadt heraus und formen so ein aus Privatleuten gebildetes öffentliches Publikum. Dort werden erst literarische, später auch politische und ökonomische Sachverhalte der Diskussion unterzogen. Die Auswahl der diskutierten Themen ist dabei grundsätzlich unbeschränkt. Zudem stehen die Salons, Kaffeehäuser und Tischgesellschaften im Grunde allen offen und machen dabei durch die einzig geltende Kraft des Arguments, losgelöst von Rang und Namen, auch alle gleich. Diese neu konstituierte kommunikative Masse begreift sich dabei zunehmend selbst als die relevante Legitimationsquelle von Herrschaft. Oder wie Habermas das Selbstverständnis dieses räsonierendes Diskurspublikums beschreibt, sich selbst als Sprachrohr des “Rechten und Richtigen”. Dieses eignet sich folgerichtig auch recht zügig das zu Beginn unter staatlicher Kontrolle stehende Medium der sich ausbildenden Druckpresse an. So entwickelt sich das Medium zur Proklamation von Recht durch Herrschende, zum Medium öffentlichen Räsonnements über das Richtige und stellt damit erstmals durch Publikation vermittelte öffentliche Meinung da. Eine Beschreibung wie ein Gemälde.
Die optimistische Stilisierung dieser bürgerlichen Öffentlichkeit lässt so bereits 1962 Habermas Theorie des kommunikativen Handelns, also der Diskursethik anklingen. Diese später als normatives Sollen argumentierte Theorie, erscheint natürlich aber umso plausibler, wenn man den Zielzustand als ehemals bereits in Ansätzen verwirklicht rekonstruieren kann. Eben dies ist auch für den folgenden Part nötig, in welchem der strukturelle Niedergang der Öffentlichkeit, relational zum skizzierten Idealtypus beschrieben wird. Dieses erst 20 Jahre später im Detail artikulierte Verfahrensideal ist genau deshalb nur die Beschreibung eines idealen Verfahrens, weil es auf dem Zweifel der Existenz eines schlagenden Arguments, was an sich und für alle Menschen verbindlich Gut und Böse ist, fußt. Es wird also konzeptuell die Koexistenz divergierender fundierter Auffassungen dieser grundlegenden Frage anerkannt. Somit kann die Antwort auf diese Frage auch nicht mehr universell von Monarchen, Gott oder Philosophen aufoktroyiert werden, sondern muss den konkret Betroffenen selbst zur Aushandlung überlassen werden. Dies soll in einem Diskurs geschehen, also in einem vernünftigen, von Argumenten geleiteten Gespräch. Die große Herausforderung liegt nun darin diesen Diskurs bestmöglich strukturell zu befördern, um das im Diskurs liegende Vernunftpotential freizulegen. Dies verlangt so die vollständige Inklusion aller Betroffenen, sowie die Bereitschaft aller Teilnehmer ihre mitgebrachten Positionen in Frage zu stellen und potenziell transzedieren zu lassen, die Gleichberechtigung der Parteien und Zwanglosigkeit in der Interaktion anzuerkennen, Offenheit für Themen und Beiträge und Revidierbarkeit der Ergebnisse. Im Diskurs, so Habermas, solle nur der “zwanglose Zwang des besseren Arguments gelten”. Die wohl Verfahrensregel besagt, dass Gesetze oder Regeln nur beschlossen werden, auf die sich alle Teilnehmer im Konsens verständigen konnten. Moralisch gut ist also das, was alle Beteiligten ohne Zwang konsensual beschließen konnten. Dabei vergisst Habermas, im Unterschied zu ihn lose rezipierenden Stimmen, nicht diese Konsensidee aus ihrem utopisch-simplizistischen Kokon zu befreien. Das Spannungsfeld aus normativ zum Konsens führendem öffentlichen Diskurs und dem Zwang zur zeitlich terminierten Willensbildung stellt so die Mehrheitsentscheidung dar, welche aber nur als rational motiviertes, jedoch fehlbares Ergebnis einer unter Entscheidungsdruck vorläufig beendeten Diskussion über die richtige Lösung eines Problems gelten darf. Es blitzt hier unverkennbar die Auffassung einer deliberativen Demokratie hervor. In welcher Demokratie nicht nur den Akt umfasst, in einer abstrakten Form durch statistische Aggregation in freien Wahlen zwischen Gleichen legitime Macht zu zeugen, sondern eben explizit als problemlösenden Prozess mit einer solchen Wahl als letzten Schritt einer kontinuierlichen gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung, in welchem sich jene zu aggregierende Präferenzen erst ausbilden, verstanden wird. Eben dies ist auch der tatsächlich notwendige und geforderte Konsens, nämlich der Konsens des konstitutiven Demokratieprinzips der geregelten Deliberation als „Rechtens und Richtig“. Dieser Konsens erlaubt die rationale Akzeptanz einer Entscheidung, eben auch für die überstimmte Minderheit. Die „Unterlegenen“ werden eben nicht genötigt ihre Überzeugung dem Konsensbestreben zu unterwerfen, durch die berechtigte kontinuierte Hoffnung des längerfristigen Erfolgs ihrer Argumente bei notwendigerweise gleichermaßen aufgebrachter Bereitschaft durch die Wirkmächtigkeit der nun in die Tat umgesetzten Argumente selbst Teil der herrschenden Majorität zu werden. Somit beantwortet Habermas auch die ominöse Frage, was eine Gesellschaft als Organisationseinheit zusammenhält rekurrierend auf Kant, als Rechtsstaat, welcher diese Deliberation zum Organisationsprinzip erhebt mit der formellen Etablierung von bürgerlichen Freiheiten, Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und legislative Kraft entspringend aus dem vernünftigen Volkswillen. Zugleich offenbart sich unverkennbar die Bedeutung der Öffentlichkeit, als eben jener Ort, in welchem diese Deliberation, dieser anspruchsvolle Diskurs sich tatsächlich abspielt. Die kommunikative Macht der öffentlichen Meinung kann dabei administrative, sprich staatliche Macht, nicht ersetzen, diese jedoch durch die Beschaffung und den Entzug von Legitimation lenken. Die Gesellschaft als Input ermächtigt als Through-Put dienende Repräsentanten, welche dann den tatsächlichen Output verantworten, dabei müssen diese Transmissionsprozesse, um nicht an Legitimation einzubüßen einen hohen „Wirkungsgrad“ aufweisen. Eine funktionale Öffentlichkeit gewährleistet diese Rückbindung von politischer Macht und vom Volke ausgehender kommunikativer Macht. Staat, als ausführende Gewalt bzw. Macht und Gesellschaft verschmelzen so, ohne sich ineinander aufzulösen. Das Habermas’sche Ideal wäre erreicht.
Es bedarf somit nicht einer beliebigen Öffentlichkeit, sondern einer, welche diese anspruchsvollen Kriterien befriedigt. Dass die bürgerliche Öffentlichkeit des frühen 19. Jahrhunderts dieses Ideal in multipler Ausführung grob verfehlt, erscheint intuitiv, ist tatsächlich auch so gewesen und wurde von Habermas spätestens mit dem nachgereichten Vorwort von 1990 explizit ausgeführt. Die Zugangskriterien zur Öffentlichkeit mit Privateigentum und literarischer Bildung kontrastieren das normative Postulat des allgemeinen Zugangs. So wurden Frauen, bedingt durch den patriarchalen Charakter der bürgerlichen Kleinfamilie und somit Brutstätte der konstitutiven Privatsphäre systematisch exkludiert. Gleiches gilt auch für den Pöbel der Arbeiter und Bauern. Neben dem Zugang war auch die verfügbare Information unvollständig und somit blieb auch hier das Rationalitätsideal uneingelöst.
Diese in den Folgejahrzehnten sukzessive Realisierung des allgemeinen Zugangs zur Öffentlichkeit etwa mit der Ausweitung des Wahlrechts induziert paradoxerweise den Niedergang der kritischen Kraft und somit Funktionalität der Öffentlichkeit. Habermas beschreibt und argumentiert somit eine im späten 19. Jahrhundert einsetzende Verhunzung der Öffentlichkeit. Grund dafür sind die Folgen des nie eingelösten gerechten Tauschs in der privatisierten Sphäre des Warenverkehrs und der in Folge entstehenden Konzentration von Kapital – und der resultierenden Oligopolisierung von Märkten – und somit gesellschaftlicher Macht in einzelnen Händen. Zudem hat sich das notwendige Postulat der allgemeinen Chance Zugang zur Öffentlichkeit, sprich Bildung und Besitz zu erwerben eingelöst. An diesem immanenten Widerspruch in der bloßen Möglichkeit Allgemeinheit und Gleichheit zu schaffen, zerbricht die traditionelle Privatsphäre und somit auch die Idee bürgerlicher Öffentlichkeit. Denn wie soll die bürgerliche Öffentlichkeit Herrschaft rationalisieren, wenn ihre eigene Grundbedingung kein herrschaftsfreier Raum ist. Die Integration einer breiteren Masse in die Öffentlichkeit ist dabei trotzdem kein Fehler und der entstehende regulierend intervenierende Sozialstaat schlichtweg notwendig zur Rationalisierung sowohl von politischer, als auch sozialer Gewalt und damit Folge des der normativen Öffentlichkeit inhärenten Prinzips der Gewaltrationalisierung. Die Folge ist die Verquickung von Öffentlichem und Privatem, Staat und Gesellschaft. Die Arbeitswelt entrückt der Privatsphäre, Großunternehmer prägen nun mitunter ganze Städte durch Wohnungen, Schulen, Sportvereine (Bsp. Leverkusen, Detroit) und der proletarisch erkämpfte Sozialstaat stützt Erziehung, Bildung und Gesundheit. Beides lässt die Privatsphäre auf eine zunehmende funktions- und autoritätslose Intimsphäre schrumpfen. Anstelle der aus der wohlbegründeten Intimsphäre der publikumsbezogenen Subjektivität hervortretenden literarischen Öffentlichkeit tritt nun die konsumkulturelle Öffentlichkeit der Massenmedien. Oder anders gesagt, aus den früheren Produzenten bürgerlicher Öffentlichkeit durch literarisches Räsonnement werden bloße Rezipienten einer abgekoppelten Scheinöffentlichkeit. Die massenmediale Öffentlichkeit, von Film, Funk und Fernsehen kommt bei Habermas dabei nicht gut weg, aus mehreren Gründen: auf der einen Seite entsteht ein nicht-öffentlich Räsonierendes Häufchen von privilegierten Spezialisten (Lanz, Robin Alexander), auf der anderen Seite eine große Masse still rezipierender Konsumenten von Massenmedien. Realitätsgerechtigkeit wird durch Konsumreife und Anreize zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft durch sedative Entspannung substituiert, das Mantra „Don`t talk back“ entmündigt bei zeitgleicher Entledigung der für ein kritisches Räsonnement notwendigen Distanz zu welchem sowieso sowohl Kompetenz als auch Bühne fehlt. Im Kaffeehaus spricht man miteinander, der Fernseher und das Radio hingegen hören nicht zu. So ist die Presse auch nicht mehr das bloße Verstärkermedium des Räsonnements der zum Publikum versammelten Privatleute, sondern deren ursprungloser Ursprung. Die Meinung macht nicht mehr die Presse, sondern die Presse Meinung.
Mit der notwendigen Politisierung der ehemals exklusiven Privatsphäre und einsetzender staatlicher Regulierung wendet sich die Öffentlichkeit zweifelsohne vom räsonablen Konsensus öffentlich diskutierender Privatleute zum Kompromiss unverhohlen konkurrierender Privatinteressen mit ungleichem Handlungsspielraum. Je mehr sie so als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt wird, um so unpolitischer wird sie im Ganzen. Denn eben dies verhindert die notwendige Bedingung einer gesunden Öffentlichkeit, dass einfache, nicht-organisierte Privatbürger ihren Meinungsstreit als einen folgenreichen, wie auch einen Streit um die besseren Argumente wahrnehmen können.
In dieser konstitutiven, zugleich aber nicht inklusiven Sphäre, können sich nun private, finanzstarke und organisierte Interessen überrepräsentieren. Die Öffentlichkeit übernimmt zunehmend Funktionen der Werbung, ganz unverhohlen und durch den einsetzenden Strukturwandel. Mit dem Werben um die Gunst des Kunden, als Art autonomen Konsumstaatsbürger in dessen Verbrauchsentscheidung, womit public relations in ihrer Gestalt politischen Charakter annehmen, wird auch der Staat selbst zunehmend dieser kommunikativen Praxis unterworfen. So wirbt auch die öffentliche Gewalt um publicity. Habermas bezeichnet dies als Refeudalisierung der Öffentlichkeit, in welcher nun vor allem wieder Wohlstand (Maschmeyer), Reflexion (Habeck), altruistische Erfolge (Gates), Style (Lindner) und bürgernahe Menschlichkeit (Söder) einer folgebereiten Konsumgesellschaft präsentiert werden. Ebenso operieren Verbände, Gewerkschaften bzw. allgemein Lobbyismus, welcher als bündelnder Repräsentant von privaten Interessen fungiert, immerzu mit dem Ziele das Gruppeninteresse durchzudrücken. Parallel macht der sich etablierende Fraktionszwang öffentliche innerparteiliche und parlamentarische Deliberation zu Nichte und im Parlament werden letztendlich nur bereits hinter verschlossenen Türen gebildete Entscheidungen registriert und dann massenmedial vermittelt. Deliberation ist nicht mehr möglich, da die Öffentlichkeit systemisch von positionell bedingungslos festgefahrenen Repräsentanten zersetzt wird, welche nur um unmittelbare Geltung in der Legislatur konkurrieren. Politik wird zum Produkt, welches möglichst unpolitisch in Schlagwörtern, Personenkult und Phrasen verkauft wird. Es wird so in vergrobter Art und Weise ein desintegriertes Publikum herangezüchtet, welches mit publizistischen Mitteln derart mediatisiert wird, dass es für die Legitimation politischer Kompromisse beansprucht werden kann, ohne an der effektiven Entscheidung beteiligt oder der Beteiligung bloß fähig zu sein. Es ist öffentlicher Meinung nicht sofort anzusehen, ob sie durch öffentliche Kommunikation oder Mediation zu Stande kam, der Unterschied ist jedoch von größter Bedeutung.
In dem Zeitalter der Massenmedien im 20. Jahrhundert gelingt öffentliche Kommunikation nach Habermas jedenfalls nicht. Es entsteht nur eine sich über der Masse der Bevölkerung ausbildende Konkurrenz zwischen abgeriegelten Organen der großen Presse, exklusiv räsonierender Publizistik und wichtigen politischen Organen (Kabinett, Gremien, Verbandskomitees, Konzernverwaltungen etc.). Auch wenn diese quasi-öffentlichen Meinungen ein breites Publikum adressieren, erfüllen diese nicht die für eine tatsächliche Öffentlichkeit notwendige Bedingungen öffentlichen Räsonnements nach liberalem Modell, da die Korrespondenz mit den gesellschaftlichen Massen maximal eine lose ist.
Habermas belässt die große aufgeworfene Frage, wie in sozialstaatlichen Massendemokratien diskursive Prozesse zwischen aufgeklärtem Selbstinteresse und Gemeinwohlorientierung, sowie zwischen den Rollen des Klienten und des Staatsbürgers gelingen soll letztendlich unbeantwortet. Damit endet der für die Studentenbewegung wirkmächtige Klassiker 1962. Seitdem ist viel passiert, Adenauer ist Geschichte, Wiedervereinigung, Internet. Eine Erfolgsgeschichte?
Politische Öffentlichkeit bedarf qualitativer, konkurrierender öffentlicher Meinungen, welche über das Mediensystem verbreitet werden. Die deliberative Qualität dieser Meinungen hängt davon ab, ob die von Meinungsproduzenten aus Politik, Verbänden und PR-Agenturen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren relevant sind, sprich hinreichend responsiv auf regelungsbedürftige Anliegen der Gesellschaft reagieren. Außerdem fraglich, wie effektiv diese öffentlichen Meinungen sind, sprich wie erfolgreich diese Beiträge in die Köpfe der breiten Öffentlichkeit gelangen. Durch diesen vom Mediensystem gefilterten, mehr oder weniger informierten Meinungspluralismus erhält jeder Bürger Gelegenheit, sich jeweils eine eigene Meinung zu bilden und eine aus ihrer Sicht möglichst rational motivierte Wahlentscheidung zu treffen. Zentral für diese evaluative Fragestellung ist das transmittierende Medium. Im Jahr 2022 somit zu untersuchen: das Internet.
Diese revolutionären die klassischen Medien besonders hinsichtlich des Kommunikationsstroms auf eine radikale Art und Weise. Plötzlich sind, mit einer geringen Hürde, alle selbstständige und gleichberechtigte Autoren und nicht mehr bloß abgekoppelte Rezipienten. Diese Inklusion macht noch nicht einmal an Ländergrenzen halt, und selbst Sprachbarrieren werden durch clevere Tools abgebaut, hinsichtlich der Habermas’schen Diskursideale ein realisierter Traum.
Die Erwartung der Zuverlässigkeit, Qualität und allgemeiner Relevanz öffentlicher Beiträge ist für die Wahrnehmung des inklusiven Charakters einer Öffentlichkeit jedoch auch unabdingbar, um die Aufmerksamkeit aller Bürger auf dieselben Themen zu richten, um jeden von ihnen nach denselben anerkannten Maßstäben zu einem eigenen Urteil über die jeweils politisch entscheidungsrelevanten Fragen zu stimulieren. Die durch Soziale Medien zur Autorenschaft emanzipierten marginalisierten Gruppen pochen auf bisher verwehrte berechtigte Ansprüche; der Anspruch mag allgemein sein, die Gruppe jedoch partikular. Diesen marginalisierten Gruppen muss dieses Recht unter allen Umständen zugesprochen werden und die errungenen Erfolge etwa durch #MeToo oder BLM sind nicht zu unterschätzen. Hinsichtlich Habermas selbst dargelegter Kommodifizierung der Öffentlichkeit mit der Gesellschaft als Nachfrager insbesondere durch organisierte Interessensverbände und dem Staat mit seinen Parteien als Anbietern ist es klar, dass sich eine Konkurrenz um Ansprüche ausbildet, welche durch die allgemeine Emanzipation zur Autorenschaft und Entprivatisierung aller Lebenssphären befeuert durch den Charakter privater Öffentlichkeiten im Internet ausufert und ins Unendliche entgleist. All diese Ansprüche konkurrieren nun um Geltung bzw. in der Öffentlichkeit so erstmal um Aufmerksamkeit. Die große Frage ist nun, ob digitale Plattformen und somit die neue dominierende Infrastruktur der Öffentlichkeit es schafft diese konkurrierenden Ansprüche adäquat zu berücksichtigen, qualitativ zu selektieren und auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen zu lenken.
Habermas hat daran Zweifel. Der Buchdruck hat alle zu potenziellen Lesern gemacht, die Digitalisierung alle zu potentiellen Autoren, „aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt haben?“. Was Habermas damit auf den Punkt bringt: mit dem Internet vervielfacht sich das denkbare Potential der Öffentlichkeit, umso ernüchternder ist dann aber der sich einstellende Realzustand.
Die neuen sozialen Medien fungieren mit einem vollkommen neuen ökonomischen Verwertungsprinzip, man zahlt mit seiner Nutzungszeit und nicht für die „Nutzungszeit“ von Medien. Die ökonomische Existenz der alten Medien wird von diesem Erdbeben nicht ohne Folgen erschüttert. Die Bezahlung über Daten wird dabei gesamtgesellschaftlich eindeutig gegenüber der Bezahlung mit mühsam erwirtschaftetem Kapital vorgezogen. Im neuen dominierenden Verwertungsprinzip ist das knappe und fokussierte Gut so Zeit, um die abgeschöpften profitgenerierenden Daten zu maximieren. Das ist die Funktionsweise aller großen Social Media Plattformen, welche sich somit wenig darum scheren, was ihre User in distanzierter Reflexion wünschen, sondern viel mehr exakt all jene Tendenzen, Triebe und Unsicherheiten ausbeuten, welche sich in eine möglichst lange und aktive Nutzung ummünzen lassen. Wir wollen Dopamin-Kicks und die bekommen wir.
Die Folgen: ein geringeres Anspruchsniveau des medialen Angebots, welches so durch geringere intellektuelle und kritische Erschöpfung die Konsumptionspotentiale der Massen erhöht, wodurch damit in Wechselwirkung aber auch zunehmend die Aufnahmebereitschaft und intellektuelle Verarbeitung von politisch relevanten Nachrichten und Problemen abnimmt. Das Abdriften in irrationale Echo Chambers, in welchen Hirngespenste Zuflucht und Zuspruch finden und die Verrohung, Polemisierung und Popularisierung des brutal um Aufmerksamkeit kämpfenden Stimmgewirrs.
Das dramatische dabei ist, dass sich dieser Entwicklung eben auch keine Instanz der Öffentlichkeit entziehen kann, welche ja noch immer wie angeführt um die Gunst der Privatleute buhlt. Empfehlenswert hierbei etwa der CSU TikTok-Account, die Tagesschau App oder die zunehmend etablierte Angabe der Lesedauer differenzierterer Textbeiträge, um die meist dann doch noch erträgliche intellektuelle Leidenszeit zumindest transparent zu machen. Persönliche Öffentlichkeiten, welche private Subjektivität, Nahbarkeit und Menschlichkeit zelebrieren, Influencer, „Diskurse“ voller Symbolik und Negationen – an Geschwülsten mangelt es nicht.
Was Habermas nicht tut, wohl aber durchaus hilfreich wäre, ist die Unterscheidung zwischen notwendigem und vermeidbarem Übel dieser neuen digitalen Struktur der Öffentlichkeit. Notwendig ist wohl der zumindest teilweise ruppige Kampf um Aufmerksamkeit und Gunst der Rezipienten. Vermeidbar jedoch die Möglichkeiten wie dieser Kampf gewonnen wird. Im besten Falle setzt sich strukturell das beste Argument durch, im schlechtesten Fall der lauteste und roheste Schrei. Wie diese wertvolle Gunst strukturell zugeteilt wird, durch Likes, Algorithmen und andere Tricks ist dabei jedoch weder transparent noch im demokratischen Entscheidungsrahmen – das hingegen müsste so nicht sein. Mit dem Buchdruck wurde Lesekompetenz zu einer immer wichtigeren Grundkompetenz, welche somit auch Teil jeder Grundbildung wurde. Gleiches muss zwingend auch hinsichtlich Medien- und Diskurskompetenz gelten, um interne Besserung zu induzieren. Gleichermaßen, und hier setzt Habermas seinen Fokus, sollte man sich an die in Grundzügen gelungene qualitative Aufmerksamkeitslenkung der alten Massenmedien erinnern und eben diese Kompetenz zumindest nicht vollkommen für eine „freie“ Kommunikationskultur aufgeben. Die Habermas’sche, aber keineswegs originelle Idee content moderation und somit Mindeststandards für publizierte Nachrichten im Digitalen. Auf den Plattformen muss also eine, an den klassischen Medien orientierte, publizistische Sorgfaltspflicht etabliert werden und somit Fake News und Hate Speech aus der Öffentlichkeit in den zugehörigen Abfall oder an die nächstgelegene, hoffentlich irgendwann handlungsfähige, Exekutivanstalt redigiert werden. Vielleicht wird Musk bald zur Erkenntnis gezwungen, dass nicht nur Twitters Lohnkosten, sondern auch der dort stattfindende Diskurs Regulierung und Limitierung bedarf.
- Der Messias beim Signieren - 31. Januar 2023
- Von Besinnung und Vorsätzen - 25. Dezember 2022
- Don‘t hate the player, hate the game. - 13. Dezember 2022