AD ABSURDUM: 400PS

Dem erleuchteten Kenner ist die Allegorie zwischen den Trucker-Babes von KabelEins und dem gemeinen Studentenvolk bereits bekannt. 400PS in Frauenhand, ein moderner Gedanke, doch nicht wilder als dem frischen Student in neuer Stadt freie Hand über sein Leben zu erlassen. Doch in diesen stetig wandelnden, sich jährlich neu bildenden Kleingesellschaften lassen sich die faszinierendsten Strukturen entdecken – und Erkenntnisse über das reine menschliche Wesen erschließen. Widmen wir uns also dem Werdegang, der Apotheose des ordinären Mensch zum Truckerbabe oder Student. Um zu den Erlauchten aufzusteigen, legt man nicht einfach das eigene Wesen ab und wird zur Repräsentation der perfekten Gestalt, sondern unterjocht das vorhandene Selbst einer kollektiven Vorstellung in einem individuellen Anpassungsprozess, der auch einem sozialen Vertrag ähnelt. Die Analyse der persönlichen Dispositionen und Gegebenheiten wird als erster Schritt vollzogen, deren Resultate man dann mit den charakteristischen Wesensarten der sog. Zielgruppe zu vergleichen vermag. Nun geschieht eine Konvergenz vom Ich zum Wir. Nicht zu sagen, dass dieser Fortlauf dem Aufsetzen einer Maske gleicht, doch die passenden Attribute werden gezielt affektiert, zum Vorschein gebracht, mit Vorsicht herangezüchtet und verfeinert. Denn bei dem Prozess des Werdens geht es weniger um das Erlernen des Handwerks einer gewählten Tätigkeit zum Erwerb von Liquidität oder Wissen. Gestrebt wird nach der Erfüllung einer kollektiven Vorstellung, die solch ein (potentieller) Zugehöriger vorweisen muss, um als solcher zu gelten. Das Angleichen an Habitus und Gepflogenheiten kann bewusst oder unterbewusst passieren, scheint aber als essentielle Befolgung eines unausgesprochenen Geheißes zur Konformität zu sein, die von der Zielgruppe implizit gefordert wird, um soziale Anerkennung und Begrüßung in die eigenen Kreise zu gewähren. 

Der Zirkel ist nicht allen offen; ein Trucker-Babe erfüllt eine spezifische Phantasie. Kompetenz ähnlich eines männlichen Mechanikers ist nicht genug, um als Frau mit Souveränität dem auf KabelEins präsentierten Truckersein gerecht zu werden. Die LKW-Branche basiert, wie so viele moderne Institutionen, auf von Männern geschaffenen Strukturen, versteht sich selbst als eine Zunft der harten Arbeit, die nur von richtigen Männern verübt werden kann. Diese Art von Exklusivität erschwert es allen Wesen, die nicht als richtiger Mann gelesen werden, die Selbstverwirklichung als LKW-Führers und bewirkt den selbstverstärkenden Effekt des Abbleibens von Diversität. Doch die Trucker-Babes sind der fahrende Beweis dafür, dass es möglich ist, trotz dieser Gegebenheiten und der erschwerten Bedingungen Waren auf dem Bock eines 40-Tonners mit bravoröser Eleganz von A nach B zu kutschieren. So erfüllt das Babe aber nur die notwendigen, nicht hinreichenden Bedingungen, die man als fernsehtauglicher weiblicher Trucker aufweisen muss: Das sog. Trucken ist notwendig um Trucker zu sein, aber wie zum Trucker auch das Mann-Sein mit all seinen assoziierten, sozial geprägten Attributen gehört, so braucht auch das Trucker-Babe Eigenschaften, welche hinreichend zur Vollendung und Konformität der sozialen Konzeption führen. So vermarktet das Babe entweder ihre Sexualität, bleibt fuckable, begehrt, ein „Cool Girl“, welches Männern die Stirn bieten und ihre Interessen teilen kann, doch vielleicht im Endeffekt noch eine Mitfahrt im eigenen Wagen mit kokettischem Augenzwinkern gewähren würde. Die andere Strategie liegt in der gänzlichen Verleugnung der eigenen aufreizenden Weiblichkeit, das Babe als ungeschlechtlich gelesenes Wesen, „einer der Jungs“ mit Bierflecken auf dem Shirt und Herablassung gegenüber den knappen Hotpants und Extensions ihrer Kolleginnen. Schlussendlich ist das Babe-sein ein Buhlen um Akzeptanz, die vielleicht nie kommen wird, auch wenn man für diese auf die Rücken der Nebenbuhlerinnen tritt.

Dies eint die Truckerbabes mit dem angehenden “Akademiker”. Auch der Student findet sich nach Ankunft an der Uni keineswegs im glamourösen Erwachsenenleben oder als Gleichgesinnter in böhmisch-freien Intellektuellen-Kohorten wieder, muss sich also in jemanden verwandeln, der seinem Umfeld und sich selbst die Phantasie des Students verkaufen kann. Nach der Selbstanalyse bezüglich vorhandenen und wünschenswerten Attributen wird das Ich den Bedingungen der ersehnten Zielgruppe unterjocht. Der junge Mensch sieht die Akzeptanz dessen als seine Pflicht, die zur Bildung oder Bereicherung seiner Persönlichkeit als Notwendigkeit. Als Bejahung zum Leben stimmt man dem selbstersuchten Leid zu und legt sich Halsband und Leine selbst an, als Zeichen der Dankbarkeit des Gesehenwerdens, und lässt alles Folgende geschehen. Mit Demut und Eifer kann die Begierde nach Konformität befriedigt werden. Es geht vor allem um die richtige Heuristik und Antizipation der gegebenen Strukturen, um sich ihnen unterwerfen zu können. So wie die Frau den Wunsch zum souveränen LKW-Lenkens hegt, so mag dies beim sog. Verformungsobjekt, dem Studenten, vielleicht das Dazugehören zu aktivistisch veranlagten Lagern, den prostenden, „höheren“ Gesellschaften, den intellektuellen Dialektikern, oder den sportlich begabten Trinkern sein. Sicherlich gibt es auch Menschen, welche mehrere Zielgruppen tangieren, meist merkt der angehende Student schnell, dass es einfacher ist, sich einer Gruppe gezielt anzunähern und den Zustand der Schwebe zu vermeiden.

Nun bedarf es einem eher intersektionalen Beobachtungsverfahren, denn es müssen sowohl Oberflächlichkeiten, als auch intrinsische Werte, Gepflogenheiten und Meinungen in den richtigen Themen rekonstruiert werden. Von essentieller Wichtigkeit ist es aber, bei möglichen Fragen bezüglich Weltanschauungen, Erfahrungen und Präferenzen differenziert und automatisiert Stellung beziehen zu können. Zunächst bietet es sich aber an, mit dem Offensichtlichen zu beginnen: der Kleidung. In den verschiedenen Fakultäten scheint es eine unausgesprochene Kleidungsordnung zu geben, durch die man zunächst Zugehörigkeit simulieren kann. Was die eine Zielgruppe als verwirrendes Overdressing empfindet, scheint in der anderen womöglich ein deterministischer Mindeststandard zu sein. Zwischen über die Schultern geknoteten Pullovern und strahlend weißen Sneakers und schmuddeligen Vintage-Pullovern und Dr. Martens sollte man sich entscheiden. Durch die Weite der Hose oder der Fasson des Haares lässt sich dann noch der Grad der Konformität justieren. Beobachtungen bezüglich der akademischen Leistungsbereitschaft, des damit verbundenen Lernaufwandes und der allgemeinen beruflichen Aussichten sind als nächstes anzustellen. So wählt man zum Beispiel, ein Streber zu sein, um gute Noten vorlegen zu können und zu beweisen, warum man an dieser Institution trotz wenig sozialem Erfolg sein Leben fristet. Oder ein Student wird zum Partybullen, zum kompromisslosen Hedonisten, und kann damit Eltern und Freunden erklären, dass die Universität ihm die Persönlichkeitsbildung und die Hochzeit seiner besten Jahre ermöglicht, wenn auch nicht unbedingt die akademische Fortbildung. Hat er diesen Erfolg trotzdem, so ist es ein Unfall, ein Zufall oder der Zerfall des Bildungssystems. Vielleicht ist man gesegnet mit höherer Intelligenz oder guten Methoden des Bulimie-Lernens, nicht etwa einer stetigen und hingebungsvollen Lernroutine. Hat ein sog. Streber sozialen Erfolg ist dies ebenfalls ein Unfall, ein Zufall, er wurde zum Feiern „mitgeschleift“ oder verleitet. Seine Kommilitonen bewundern seine Intelligenz oder erquicken sich an den abstrakten Gedanken und lassen ihn dann in ihre Kreise, aber nicht etwa weil er sie im Bierpong alle vernichtend schlägt. 

Weiter gilt es, die Fähigkeit zur kurzen und pragmatischen Positionierung bezüglich bestimmter Sachverhalte zu verfeinern, die je nach Verlangen des Gegenübers ausgeweitet und zur allgemeinen Diskussion bereitgestellt werden kann. Am effizientesten ist daher, Pro- und Contra-Argumente auswendig zu lernen, um sie je nach Bedarf dosiert einsetzen zu können. Hierbei kann man sich für den Anfang an Ernst Jüngers Leitsatz halten, der besagt, dass man mit einem breit aufgestellten, aber eher oberflächlichen Wissen und einer geschickten Verflechtung von Fakten und Meinungen einen guten ersten Eindruck erzeugen kann. Zum Beispiel kann man in einem Gespräch mit arbiträrem Inhalt in einem Nebensatz anmerken, dass dies und jenes auch in der Literatur des von H. P. Lovecraft geprägten Genres Existential Horrors widerspiegelt, oder zu einem Zitat Reich-Ranickis passt. Damit simuliert man tiefgründiges Wissen, Abstraktionsfähigkeit und Rhetorikfähigkeiten und schafft es damit, das Gegenüber zu beeindrucken und ggf. auch zu verunsichern. Hierbei ist aber zu beachten, dass die eingestreuten Fakten sich von dem vermuteten Wissenshorizonts und Interessensgebieten der Zielgruppe nicht zu sehr unterscheiden, um keine negative Aversion zu erzeugen. Der Effekt der Beeindruckung durch sprachlichen Austausch kann auch mit zielgruppentypischem Vokabluar ergänzt werden. Wie im Fetischspiel kleidet man sich gemäß der eigenen Rolle ein und übt seine Sätze: “Ich hasse die Uni.”,“Ich war acht Stunden in der Bib.” und “Lass Hofgarten gehen.”, “Nein, muss hustlen.” sind typische Beispiele des Studentenvokabulars. Natürlich ist auch die eigene Position in der sozialen Hierarchie in die Strategie mit einzubeziehen. Diese kann man sich anfangs selbstverständlich nicht aussuchen, sondern wird durch einen sog. Einteilungsprozess durch die Zielgruppe arrangiert. Allgemeinhin ist noch zu beachten, dass sich dieser Prozess der Unterjochung auf unbestimmte Zeit ausweiten kann, aber ab einem gewissen Zeitpunkt von einer Emanzipation abgelöst werden sollte. 

Eine einfach konsumierbare Narrative wird schnell geschaffen und dann ausgelebt – so gut sogar, dass der Student ihr oft selbst verfällt. Doch was bewegt den angehenden Student oder das werdende Trucker-Babe zu dieser Verformung ihrer Selbst? Schließlich soll es nicht unmöglich sein, einen Truck zu fahren oder eine Prüfung an der Universität zu schreiben, ohne den ganzen Aufwand der Selbstinszenierung. Doch kaum eine Droge ist so mächtig wie der Reiz der Aufmerksamkeit und Anerkennung. Studiert man, so will man natürlich auch in den Augen seiner Mitmenschen ein Student sein. Die Qualitäten des Studentseins sind mannigfaltig, doch so unterschiedlich das Klientel des Glashauses ist von den Gästen des RW-Cafés auch sein mag, so streben sie alle die Perfektion ihres gewählten Seins an. Die Markenzeichen, Phrasen und Erkennungsmerkmale der eigenen Gruppe werden als Signal gesendet und verstanden, dann bewusst weiter ausgebildet und zelebriert. Dieses Umfeld junger Erwachsener, die das erste Mal Freiheit kosten und noch nicht den Wert von Moderation erlernt haben, treiben ihre Selbstexpression an die Spitze des Möglichen, um hervorzustechen und irgendwann dazuzugehören. Also liebe Erstis und alle anderen Leser dieses Schriftstückes: Viel Erfolg im Kampf zum Erlangen der Daseinsberechtigung und des Abschlusses!

Von Antonia Trieb und Alexandra Wolff

Antonia Trieb
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