Krawall im Kopf

Illustrationen: Moritz Vogt

Es ist Montag, 19 Uhr am Opernvorplatz im Zentrum von Bayreuth. Die Sonne hat ihren Zenit schon überschritten, doch der Stadt und ihren Bewohner*innen steht an diesem Abend noch einiges bevor. Etwa 100 Spaziergänger*innen versammeln sich mit Trommeln, Pfeifen und Transparenten, um mit der Welt ihre Sorgen zu teilen. So ist das jeden Montag in Bayreuth und vielen anderen Städten in der Bundesrepublik und auch wenn es kaum möglich ist, wegzuhören, so ist es doch eine Seltenheit, dass ernsthaft zugehört wird. Angesichts geringer Fallzahlen und kaum nennenswerter Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie im Freistaat Bayern wollten wir gerne erfahren, was gute 100 Leute so ausdauernd zur lautstarken öffentlichen Artikulation bewegt. Dieser Frage gingen wir unvoreingenommen nach und begleiteten den Aufmarsch am 6. Juni.

Der Pulk, bestehend aus vielen Individuen über 40, vereinzelt auch aus Familien und aus jüngeren Menschen, traf sich vor der Bayreuther Oper und setzte sich dann recht träge in Bewegung. Das so eine Montagsdemo ein Marathon und kein Sprint ist mussten wir 2 Stunden und 4 Kilometer später, physisch und psychisch vollkommen ermüdet, feststellen.

Wir beabsichtigten mit unterschiedlichsten Demonstrierenden ins Gespräch zu kommen und dies, das muss man festhalten, gestaltete sich mehr als unproblematisch. Das Mitteilungsbedürfnis war enorm. Es gab viel zu erzählen, die Sehnsucht nach einem offenen Ohr riesig und wir hörten geduldig zu. Vermerkt sei an dieser Stelle, dass Dialog keinen außerordentlichen Stellenwert in der Organisation der Demonstration einnahm und durch martialisches Trommeln, disruptives Pfeifen und nervenaufreibende Megaphonsamples enorm erschwert wurde und die Synapsen bis zum Anschlag brachte.

Mein erstes Gespräch gestaltete sich sehr angenehm. Ein älterer Mann schilderte mir, er sei nur hier in Reaktion auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Gesundheitswesen und prospektiv für eine womöglich wieder aufflammende allgemeine Diskussion dieser im Spätherbst. Verschwörungen, Ablehnung von Staatsautorität oder interessante Meinungen zu Russland Angriffskrieg teile er nicht, dass er mit eben solchen Positionen unter einem Banner demonstriert, sei “eine Kröte, die er bereit sei zu schlucken.”.

Natürlich hat man geringe Erwartungen bezüglich der Dinge, die einem erzählt werden, wenn man eine Querdenkerdemo hospitiert. Dass mir bereits meine erste Gesprächspartnerin antisemitische Narrative darlegte und den Angriffskrieg Russlands leugnete, damit hätte ich dennoch nicht gerechnet. Nicht nur dieser Krieg, auch der Zweite Weltkrieg, ja sogar der Erste Weltkrieg sei „von den Rothschilds“ und anderen Eliten, die sich heutzutage bei der Bilderberg Konferenz treffen, angezettelt worden. Auf ihrem Transparent prangerte sie die Existenz amerikanischer Biowaffenlabore auf ukrainischem Territorium an. Quelle? Telegramm. Bevor ich mich von ihr lösen konnte, um Gesagtes zu verarbeiten, erzählte sie mir noch von Impftoten und dem „Corona Ausschuss“, der sich der Aufarbeitung der Pandemie und den getroffenen Entscheidungen widmet. Im Nachhinein finde ich heraus, dass diese Plattform von Reiner Füllmilch betrieben wird und man sich bei Sendungen des Ausschusses eher die Frage stellen muss, welche der getroffenen Aussagen nicht falsch oder verzerrt sind.

Weiter ging es mit einem langatmigen Gespräch, in welchem mir ausführlich die “richtige” Perspektive beim Blick gen Osten erklärt wurde. Denn während Deutschland irgendwann nicht mehr wirklich Deutschland sein wollte, sei das eben in Russland anders. Die Ukraine existiere außerdem nicht wirklich und das gegenwärtige Regime bestehe aus durch US-Hand eingesetzte Verbrecher. Konventionelle Medien beziehe er seit 2020 nicht mehr, nachdem diese für ihn unzufriedenstellend über eine Corona-Demonstration in Berlin berichteten, bei der er selbst teilnahm. Seine Informationsquellen nun: “Telegram, Verschwörungstheorien und so”. Die weiteren Unterhaltungen verliefen mal mehr, mal weniger abstrus. Während die einen von Beginn an fernab haltbarer Wissenssphären verkehrten und in den Affenpocken ein neues Instrument “von oben” erkannten, um weiter ein Regime von Angst und Einschränkung aufrechtzuerhalten,bogen andere erst kurz vor der Ziellinie auf wissenschaftlich holpriges Terrain ab und erklärten dann etwa “asymptomatische Infektionen habe man sich mit Corona erst ausgedacht, das gab es vorher nicht”.

Dabei wäre es doch tatsächlich möglich, innerhalb gegenwärtiger Wissenschafts- und Vernunftstandards einen substanziellen, kritischen Diskursbeitrag zur vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Corona-Politik zu leisten. Denn eine Impflicht etwa steht im Konflikt mit individueller Freiheit, eine Nicht-Impfung mit Rationalität und gewissermaßen Solidarität, und damit Werten, die allesamt in unserer Gesellschaft hochangesiedelt werden. Im Austarieren dieser normativen Gegensätze sind fundierte Beiträge beider Seiten durchaus von hohem Wert. Konstruktiv zu Ende gedachte Positionen waren jedoch eine absolute Rarität dieser Krawallkompanie.

Wie genau sich die verschiedensten angeschnittenen Themen schlüssig unter einem Banner vereinen lassen, war dabei für niemanden so wirklich ersichtlich. Aber nach der 76. Wiederholung des Mantra “Frieden, Freiheit, Selbstverantwortung” gehen solche Nuancen im Denken sowieso verloren. Bei Fragen zum Umgang mit Rechtsextremismus war man sich hingegen recht einig: Solange diese sich unter dem thematischen Banner subsumieren, und die Veranstaltung nicht für ihre Zwecke instrumentalisieren, hält man es da als Liberale ganz klassisch mit Montesquieu, dies sind ja “auch Menschen wie du und ich”.

Wie bereits erwähnt, war es für uns kein Problem mit den Spaziergänger*innen ins Gespräch zu kommen und von Ihren Thesen zu hören. Sobald man jedoch versucht, ihnen Ansichten entgegenzustellen, die nicht den ihren entsprechen, stößt man auf unüberwindbare Mauern. Zu Beginn der Demonstration fiel uns eine dreiköpfige Gruppe junger Menschen auf, die sich unter einem großen Banner versammelt hatte, auf dem ein roter Phoenix und die Aufschrift „Studenten Stehen Auf“ prangte. Auf der Website dieser Vereinigung heißt es unter dem Abschnitt unsere Werte:

„Ein kritischer Diskurs über die SARS-CoV-2-Pandemie und der mit ihr begründeten staatlichen Maßnahmen wird seitens der etablierten Medien ignoriert bzw. als „Verschwörungstheorie“ diffamiert.“

Auch wenn die Montagsdemo eine sehr heterogene Gruppe ist, sind sich die Meisten in ihrer Selbstwahrnehmung einig darin, für einen aufrichtigen Diskurs und eine wissenschaftliche kritische Perspektive auf Politik und Gesellschaft auf die Straße zu gehen. Fragt man dann nach den Quellen ihrer Thesen, hört man Namen wie Danielle Ganser, Arne Burkhardt oder den „Corona Ausschuss“. Es bräuchte einen eigenen Artikel, um aufzuführen, inwiefern diese Akteure und ihre Plattformen keinerlei wissenschaftlichen Standards entsprechen und dass sie sich mit ihren Aussagen oft außerhalb des rechtsstaatlichen Spektrums bewegen. Fast alle „Spaziergänger*innen“ mit denen wir gesprochen haben, lehnen konventionelle Medien komplett ab und behaupten sowohl die öffentlich-rechtlichen Medien als auch die staatlichen Statistikbehörden seien Teil einer Verschwörung gegen die Wahrheit. Versucht man, die Wirksamkeit der Impfung mit Daten des Robert-Koch Instituts zu belegen, erntet man zynische Blicke. Widerlegt man die These der gleichmäßigen Belegung der Intensivstationen durch Ungeimpfte und Geimpfte mit Hilfe eines Faktenchecks der Tagesschau, wartet man vergeblich auf Einsicht.

Unter dem Strich, ­man ist kritisch gegenüber allem, außer sich selbst. Man behauptet, eine wahrhaftige, ideologiefreie Sicht auf die Dinge zu haben, ist aber nicht bereit, die eigenen Quellen zu hinterfragen. Mit dem Selbstverständnis vom gegenseitigen Zuhören, das auf der Website der aufstehenden Studierenden beworben wird, ist es in der Realität nicht weit her.Tobias, der mir seine Nummer gegeben hatte, um sich weiter über die Anliegen ihrer Bewegung auszutauschen, bittet mich unmittelbar nach der Demo seine Nummer wieder zu löschen. Kein Problem, aber etwas selbstentlarvend.

Zurück am Opernplatz offenbarte sich ein diffuses Spektakel zum Abschluss der Veranstaltung. Nachdem die ausdauernden Trommler ihren Dienst quittieren durften, wurden diese mit einem nicht minder verstörenden Open-Mic Angebot ersetzt. Wer noch etwas zu sagen vermochte, durfte gerne einmal ans Mikrofon beim Bollerwagen mit der Ottonormalbürger-Schlafschaf-Puppe treten. Neben schrägen Gesangseinlagen und der Prophezeiung von Maskentoten durch überfüllte 9€ Ticket Regionalzüge, berichtete eine verwirrt anmutende Frau von der wertvollen Rolle der Viren im Wald, wo diese als überlebenswichtige Botenstoffe fungierten, dies habe sie “irgendwo” gelesen. Für solcherlei Quellenangaben erntet man jedoch selbst innerhalb der „Spaziergangscommunity“ vereinzeltes Kopfschütteln, schließlich bildet man sich auf die eigene Wissenschaftlichkeit viel ein.

Dann war es geschafft. Die Gemeinschaft löste sich in Luft oder in kleinere Gesprächsrunden auf und die Teilnehmenden machten sich auf den Nachhauseweg. Das bedeutet wieder eine Woche alleine sein mit den starken Gefühlen der Verzweiflung, Nicht-Verstanden-Werden und Isolation im gesellschaftlichen Diskurs. Doch über Telegram bleibt man auf Tuchfühlung und findet genau das, was einem die graue Welt sonst verwehrt: Wertschätzung, Verständnis, Gemeinschaft. Eine funktionale Parallelgesellschaft der Andersdenkenden. Inhaltlich relevant für unseren Gesellschaftsdiskurs sind deren Krawallzüge nicht, selbst wenn sie im Herbst mit steigenden Zahlen und strengeren Maßnahmen wieder mehr Zulauf finden sollten und während des Spaziergangs immer wieder freundlich gesinnte Bayreuther*innen von ihren Fenstern winken. Hinhören sollte man trotz der Risiken für das eigene Seelenwohl aber dennoch, gerade weil die alternativen Realitäten, die sich die Teilnehmenden schaffen, voller gefährlicher Mythen sind, die dem Wohl der Demokratie großen Schaden zufügen können.

Lukas Baderschneider
Letzte Artikel von Lukas Baderschneider (Alle anzeigen)