AD ABSURDUM: Solidarität

Wieso es moralisch geboten ist, trotz eines privilegierten Daseins in der Norma einzukaufen

Kaum ein Gut ist heutzutage so hoch gepriesen wie die Solidarität. Von der kirchlichen Nächstenliebe zur linkspolitischen Sehnsucht nach Diversität – alle Gruppen schreien nach diesem summum bonum. Seit Kommunismus wieder en vogue ist, lautet die Forderung der Gerechtigkeitskämpfer und Sofalehnen-Aktivisten, sich mit allen und jeden gut gelegenen, gesellschaftlich benachteiligten Gruppen zu solidarisieren, so sehr, dass das Wort schon völlig bedeutungsbefreit ist. Zusammengehörig solle man sich fühlen, mit den Arbeitern, den Migranten, den Underdogs. Alle sollen gleich sein, Teil desselben Volkes und Kampfes gegen die Spaltung der Gesellschaft – und trotzdem kann man als Student, in den Worten eines wohlmeinenden Kommilitonen, “im NORMA eigentlich nicht einkaufen.” Denn die Kundschaft der NORMA am Bayreuther Busbahnhof sind nicht die unterdrückten Arbeiter, mit denen es sich aus einer privilegierten Perspektive heraus zu solidarisieren gilt. Sie sind “Assis”. Es ist die traurige Wahrheit, dass es nur eins gibt, welches die Solidaristen lieber tun als sich zu solidarisieren: Gründe zu finden, warum die Solidarität mit bestimmten Gruppen nicht funktioniert.

Alle sind wilkommen im Versuch, die Gesellschaft zu verändern, bis sie aufhören ein schönes, makelloses, williges Sozialhilfeprojekt zu sein. Shibal biyong oder fuck-it-expense, bezeichnet das kuriose Phänomen, welches so mancher NORMA-Kundin das Recht auf Solidarität verwehren mag. Diese Praxis betitelt das Aufgeben des kleinen Betrags, der den meisten weniger privilegierten Mitgliedern der Arbeiterklassen nach Deckung der Lebenshaltungskosten erhalten bleibt, für kleine Luxusgüter statt lange ersparten Großinvestitionen. Anders gesagt kann darin auch ein Aufgeben der leeren Versprechungen von Klassenmobilität durch harte Arbeit gelesen werden, doch von außen betrachtet sieht es stattdessen nach stumpfer Akzeptanz der eigenen Umstände aus. Denn wer die zwanzig verfügbaren Euro im Monat für Netflix und Zigaretten ausgibt, anstatt sie auf die hohe Kante zu legen, um in zehn Jahren vielleicht eine Wohnung oder ein Auto zu kaufen, falls die Preise nicht steigen, der will ja eigentlich nichts an seiner Situation ändern. Genau so scheint es, dass wer seinen Sonntag nach einer Woche harter (körperlicher) Arbeit lieber nutzt um vor dem Fernseher ein Bier zu genießen, statt zur örtlichen Demo zu gehen, dem ist die Politik ja egal. 

Im Kern vieler Solidaristen steckt weniger ein wahres Verlangen zur Anerkennung sozial benachteiligter Gesellschaftsschichten als ebenbürtige Verbündete im gemeinsamen Kampf nach Gleichstellung,  sondern mehr die Phantasie, heroisch errettend eine unterdrückte Armee in den gerechten Kampf zu führen. Wenn diese sich widerspenstig zeigt, gestaltet sich das eher schwierig. In so manch einem Solidaristen schlummert verborgen ein Messiah, nur darauf wartend die gemeinen Massen in die Erleuchtung zu führen. Doch anders als Jesus, der mit den Huren und Bettlern lief, wäre es doch viel angenehmer, diese Rettung gemütlich vor dem Bildschirm durchzuführen und danach fein im REWE einkaufen zu gehen, wo sich die Rettungsbedürfigen sicherlich nie antreffen lassen werden. Dies ist der Hintergrund der studentischen NORMA-Meidung. So ist es unmöglich beim Besuch des Supermarkts jenen zu begegnen, die es ja zu erretten gilt, damit also die Rolle des Weisen und Wegführendens zu verlassen und einer der gesichtslosen niedergeschlagenen Masse zu werden. Gleichweg wird man jedoch mit der Wahrheit konfrontiert, dass jene NORMAden nicht wohl die Verkörperung einer noblen Armut und dem reinherzigen Streben nach Besserem sind, sondern komplizierte, komplexe Menschen. Die Landschaft der NORMA ist faszinierend; Hier findet sich ein kleiner Mikrokosmos einer Gesellschaft, die zwar in aller Munde ist, doch in welche die meisten Solidaristen noch nie durchgedrungen sind. Ob dies an Proximität, Gewohnheit, oder einer latenten Arroganz liegt, sei dahingestellt. Letztere ist bekanntlich, neben dem zu eng gefassten Solidaritätsbegriff, eines der heikelsten Probleme der heutigen Zeit. Eine sich durch akademische Kreise ziehende leichte Überheblichkeit verleitet so manch wohlmeinenden Gerechtigkeitskämpfer, die Bürde seiner Erkenntnisse als unanfechtbare Wahrheit in Stein meißeln zu wollen. Doch bekanntlich ist es unmöglich, etwas wahrlich und über jeden Zweifel erhaben zu wissen. Trotz der vorbildlichen und unvergleichlichen Authentizität des NORMA-Klientels sammeln sich in selbigem Discounter zwischen eingeschweißten Trockennudel-Paketen und TK-Huhn gleichsam Mozartkugeln, Perlwein und Iglo-Fischstäbchen. Ein Leben des Strebens ohne Lichtblicke lässt sich nun einmal nicht ertragen, und in der kapitalistischen Gesellschaft ist jeder Lichtblick auch ein Konsumgut. Und warum nicht? Solidarität bedeutet nun mal, seine Verbündeten zu unterstützen, ihnen Möglichkeiten und Freiheiten zu erkämpfen, nicht aber einzugreifen und mit erhobenem Finger zu mahnen, wenn sie ihr Leben auf eine Weise gestalten, die nicht vollkommen auf das Streben nach den Aufstieg ausgelegt ist. 

Sich nach den Schauergeschichten der Kommilitonen das erste Mal in die NORMA zu begeben ist ein schwer greifbares Erlebnis, voller Unsicherheit und Scham: Nicht bloß vor dem, was einen erwartet, sondern auch vor sich selbst. Man fühlt sich auffällig, unzugehörig, ein Spektakel, wie ein Fremdkörper in einer homogenen Masse. Gleichzeitig ist man gezwungen in den Spiegel zu blicken und seine unschönen Vorstellungen mit einer allzu menschlichen Realität zu vergleichen. Doch ein verschwiegener Teil der Seele verzehrt sich nach diesem Gefühl. Die eigene empfundene öffentliche Demütigung wird zu einem Genuss. In der Selbstvorführung zerplatzt ein NORMAden-Frischling die Blase seiner gesellschaftlichen Erfahrung, streift zwischen Billigschnaps und Offbrand-Tupperware seine Scheuklappen ab und verlässt die neon-orange leuchtenden Pforten mit neuer Selbst- und Fremderkenntnis, einer spirituellen Transzendenz und beinahe wollüstigen Befreiung. Solch Katharsis ist Katalysator. Ist der erste Schock verdaut, welcher durch den Verzehr einer 1,5 kg-”XXL-Gnocchi-Pfanne” verstärkt worden sein könnte, so ist der Blick klar und die klassistischen Strukturen der Gesellschaft in ein scharfes Relief geworfen. 

Es scheint offensichtlich, dass die städtischen Supermärkte eines der puresten Sinnbilder der gesellschaftlichen Hierarchien sind; Wie Moses das Meer spaltete, so spaltet sich das Klientel auch ohne messianische Eingriffe zwischen den REWEs, Aldis und NORMAs der Welt auf. Sie verstehen diese Zuteilung des Einkaufsort als gottgegeben und sehen keinerlei Grund für einen Wandel ihres Habitus. Ihre kollektive Selbsteinschätzung ist bestimmt durch diese Umgebung, diese implizite Stellung, die ihre Masse gesellschaftlich einnimmt, und so ist auch ihre Sicht auf diese bestimmt. Daraus folgt ein Abgrenzungsprozess, der das “wir” von “den anderen” erbarmungslos definiert und der die Basis für die Konstruktion eines kollektiven Handlungsnarrativs darstellt. Nur menschlich ist das Bedürfnis, verstanden zu werden, sich als Teil eines organischen größeren Ganzen zu sein. So auch beim Besorgen der alltäglichen Bedarfsartikel. Doch der ignorante REWE-Steffen ist so lange mit der Unwissenheit gestraft, dass es in der NORMA neben schimmligen Himbeeren auch (abgepackte, vermutlich schimmelfreie) Bio-Chiasamen gibt, bis er sein Ego überwunden hat und eben jene in den Händen hält.

Zum Erreichen des klassenbefreiten Utopias, auf dass alle Verfechter der Gleichstellung hinarbeiten ist die Sprengung der Supermarkt-Segregation unbedingt nötig. Diese Orte der Lebensmittelbeschaffung sollten wie die Märkte alter Zeit zu ihrer Funktion als Knotenpunkte der Gemeinschaft zurückkehren. Die in ihren Supermärkten gefangenen Klassen müssen sich vermischen, sich als Ebenbürtige kennenlernen die auf Augenhöhe um das letzte Baguette rangeln, und schlussendlich müssen sie verschmelzen. Nur so ist das System der Hierarchie, des Schams, und der Unwissenheit zu durchbrechen. Die Welt samt ihren Strukturen und Wahrheiten ist ein Produkt des Menschen und auch nur durch diesen veränderbar. 

Sehr geehrte Leserschaft, der NORMA bedarf es keiner Liebe, aber Solidarität. Früher oder später wird ein jeder durch ihre Plexiglas-Türen schreiten, ob es aus Pflicht oder Neigung passiert, ist in Zeiten des utilitaristisch geprägten Raubtierkapitalismus gänzlich obligat. Zweifellos ist es löblich, falls das Betreten der NORMA aus uneingeschränkt gutem Willen zur Wiederherstellung des residualen Charakters unseres Gesellschaftssystems passiert, doch solidarisiert sich ein Opportunist mit den NORMA-Solidaristen aus Solidarität mit selbigen, so ist dies ebenso akzeptabel. Der Zweck heiligt die Mittel und im Kampf gegen die gesellschaftliche Ungleichheit ist das Ziel der vollkommenen Egalität durch jeden neu gewonnenen NORMA-Kunden ein kleines Stückchen näher gekommen. Die NORMA-Abscheu ist keineswegs eine Tugend, sondern ein Laster, das es abzulegen gilt. Denn die Abscheu gegenüber sozialer Ungerechtigkeit sollte immer größer sein als die Bewahrung der eigenen Prestige. NORMA, der Discounter des Klassenkampfs und Sinnbild für Veränderung!

Antonia Trieb
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