Tief gesunken, oder doch nur bescheiden?
Wo soll ich denn nur anfangen? Nach dem Erscheinen meines letzten Textes ist so viel Irrelevantes passiert, dass einem schwindelig werden könnte vor lauter besprechbaren Themen. Mein lieber Chefredaktor schlug mir vor, ich könne doch wohl über Sylt berichten und dass ich nicht da war dieses Pfingsten. Warum ich nicht im geheiligten Land des Gunter Sachs verweilte, liegt ja wohl auf der Hand: Ich hatte Angst. Angst vor Straßenschlacht und Sandburgen und Dosenbier und Klassenkampf. Angst vor einem nicht wiedererkennbaren Gogärtchen, welches statt halbem Hummer nun Thunfisch aus der Dose anbieten würde, weil sich das Klientel geändert hätte. Angst vor einem Pony, in dem sich Minimaos mit Pöbelprinzen prügeln, jeweils aufgeputscht durch das Mittel ihrer Wahl (5.0-Dose vs. Prollbrause). Besorgt telefonierte ich mit meinem guten Freund Niclas, wie denn die Zustände auf dem neuen Cuba so seien und erhielt Entwarnung. Die erwarteten Schlachten blieben aus, keine Banditen oder Wegelagerer am Kampener Weg und auch in der Buhne sitze man noch gemütlich, sagte er. Dass der Aperol ihm trotzdem nicht mehr so gut schmecken würde und er vielleicht auf alkoholfrei umsteigen würde, erzählte er auch. Der Lagebericht enttäuschte mich, dass er dem Alkohol abschwören wolle, schockierte mich gar. Vielleicht weil ich es nicht einsehen wollte, dass er immer erwachsener wird, vielleicht aber auch weil mir eine solche Diätumstellung auch nicht ganz schlecht zu Gesicht stehen würde.
Genug Trauer. Jetzt die Wut. Als bekannt wurde, dass unsere wunderbar sozialistische Bundesregierung ein Füllhorn stopfen und später über uns alles Ausspeien wolle, da wurde mir ganz wohlig zumute. Zugfahren für nur neun Euro drei ganze Monate lang, das wäre doch was, gerade weil ich doch ganz gerne Zug fahre und auch häufig. Da könnte man die jeweils gesparten hundert Euro passabel in Pils investieren im Bordbistro, Zugfahren würde wohl herrlich werden dachte ich, bis ich bemerkte, dass es gar keine Bordbistros gibt in den Freifahrtschläuchen – diese sind den Luxuskanonen, den Intercity-Expressen, exklusiv zu eigen.
Das andere Bürgerbonbon, der Tankrabatt tangierte mich sowieso nicht so recht, ich tanke schon lange rund um die Zweieuromarke herum. Meine verwöhnte Kutsche schluckt nur Superplus und das auch nur gerne, wenn es eines dieser Premiumpowerprodukte ist. Nun gut dachte ich, dann gibt’s halt Energiegeld. 300€ glatt, das reicht knapp für zwei Flascherl Ygay und der hat bekanntlich ordentlich Power. Aber nichts dergleichen. Da ich, wenn auch nicht bedürfnis – so doch durchaus arbeitslos bin,
so gibt es für mich nicht einmal das kleine Penunzenhäufchen zum Einheizen. Die Vorfreude war schon wieder halb verflogen. Schwer niedergeschlagen löste ich ein Billet aus der Heimat zurück nach Oberfranken. Kein Neuneuroticket – das wollte ich dem Staat nicht durchgehen lassen, dass er mir das Pils vorenthalten wollte – nein, ein schönes Intercitybillet für vier mal neun Euro. Voller Vorfreude auf die nun zu vernichtende Hopfenkaltschale begab ich mich zum Bahnhof und erfuhr von dem Ausfallen meines Zuges – die Belastung durch die Freifahrer sei zu hoch, um andere als die Proletenschläuche über die Gleise zu schicken. Nun also doch Regionalverkehr und die wohl härtesten Stunden meines zarten Daseins.
Neben mir saß eine Dame, welche dieser Bezeichnung vielleicht nicht gänzlich würdig war. Ihr Zeichen war ganz das altehrwürdige doppelte G. Während ich zwar die Authentizität ihrer Kappe stark anzweifelte, war das Doppel-G ihrer Oberweite unangenehm echt. Vor dem Besteigen des Zuges hatte sie sich mit ordentlich Reiseproviant in der Bahnhofsfischbude eingedeckt. Frittierte Krabben und Knoblauchsauce. Ein Tischtuch oder eine Serviette hatte sie wohl in der Eile vergessen, jedenfalls musste als ebensolche ihr ohnehin schon bemitleidenswert wirkendes Haupthaar herhalten. Mir schien an diesem Wochenende das Publikum der Regionalzüge unausgewogen. Bei den meisten Passagieren waren IQ und BMI in Zahlen gefährlich nah aneinander. Das erste Mal in meinem Leben bin ich neidisch auf den Sohn eines SPD-Mitglieds – Alexander Lambrecht. Flugbereitschaft nach Kampen statt Zugunglück nach Bayreuth.
Nachdem mich meine wohlbeleibte Nordseekrabbenfrau in Crailsheim verlassen hatte, stieg an ihrer statt ein Zugezogener zu. Ganz in beduinistischer Manier nur bekleidet mit Kaftan und Sandalen, sodass der Anblick und Duft seiner Zehen mich gänzlich meiner Sinne beraubte. Seine Bälger, welche offensichtlich einer antiautoritären Erziehung unterworfen waren, verwechselten den Zugmittelgang mit einem kleinen Fußballplatz. Auch wenn ich an ihrer Konversation mangels Sprachkenntnis meinerseits nicht teilhaben konnte, so fieberte ich doch sehr mit dem von mir favorisierten Team mit. Die Hutschnur platzte. Nicht mir, nein, ein nicht unbeleibter Vater eines vollschlanken nintendogospielenden Kartoffelmädchens hält es nicht länger aus. Harte, ehrliche Worte fallen in Richtung des Kaftanträgers und seiner Zöglinge. Verachtung in den Blicken der Angesprochenen, aber der Fußball wird getauscht gegen je ein mobiles Endgerät. Es kehrt ein wenig Ruhe ein, die Blicke der Buben fiebrig auf die Flimmergeräte gerichtet.
Jetzt ist Essenszeit und die betuchte Beduinenbegleitung packt aus. Es riecht nach Kichererbsen und Gewürzen und nach ein wenig Frieden . Erschöpft schlafe ich ein und träume vom Zugfahren. Ich träume von der tschechischen Bahn, die von Berlin direkt fährt nach Prag. Mit ihrem Speisewagen, in der böhmischen Küche frisch zubereitet mit einem echt en Pilsener verzehrt werden kann, in einem Bordrestaurant, das seinen Namen durchaus verdient. Nach Braten und Klößen stecke ich mir im Traum eine Zigarette zum Kaffee an. Im Traum geht das noch, in der Realität leider nicht. Mein Schlaf wird jäh beendet durch ein wuchtiges Wortgefecht – Valhalla versus Wallah. Die Raufbolde hatten der Nintendogospielerin beim neuerlichen Umhertollen versehentlich ihr Gerät aus der Hand geschlagen und der zivilcouragierte Herr Papa ist von Nachsicht gänzlich verlassen, sobald es um seine Prinzessin geht. Trotz Verspätung sind es nur noch zwölf Minuten bis Nürnberg, ich drehe die Lautstärke voll auf und aus meinen Kopfhörern dröhnt Lindemanns überwältigende Stimme: „Stillgestanden in der Brust / ein totes Herz ist kein Verlust“. Recht hat er, denke ich, und lehne mich erschöpft zurück.
Bei Ankunft im Metropolbahnhof stolpere ich als Erster auf den Steig . Zigarette. Nächster Zug. In die Wagnerstadt fahren nur Studenten und Rentner, die Wahrscheinlichkeit eines Abenteuers ist mithin begrenzt. Nach dem ordnungsgemäßen Verstauen meines Koffers setze ich mich gemütlich in einen Vierersitz und schließe die Augen. Kurz vor Abfahrt öffne ich sie wieder und schaue mit Schrecken auf ein paar unbeschuhte Beinenden, welche mir gegenüber platzgenommen haben. Sie scheinen lange ungewaschen – ziemlich dreckig vom Gebrauch. Die aus den Nagelbetten ragenden Waffen haben einen Farbverlauf von einem dunklen Ocker hin zu rapsfarben. Das zu den Beinenden gehörende Wesen verströmt einen Mischduft von Straße und Speick, was mich zum Wechseln der Maske hin zu FFP-2 zwingt. Halb so wild und im Freistaat sowieso Pflicht. Im gegenüberliegenden Platz sitzt ein bildungsfeindlich ausschauendes Paar und teilt sich liebevoll ein Pizzahutprodukt.
Ein leichtes Zittern befällt mich, ich kann nicht mehr.
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