Das Leiden der anderen – Verletzte Gefühle und gefühlte Verletzungen
Von Lukas Sperling
Im Voraus und leider nicht aus meiner, sondern aus der Feder Thorleit Kunkels sei gesagt: „Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, neh- men sie nichts persönlich und überprüfen Sie regelmäßig, ob ihre geistigen Fähigkeiten irgendwie beeinträchtigt sind.“
Diese Warnung ist dem Anfang dieses Jahres erschienenen Roman „Im Garten der Eloi“ einleitend vorangestellt und hat sich seit der Lektüre des wirklich hinreißenden Textes zu einer Art „Motto“ für mich entwickelt, wobei ich Menschen, die Mottos befolgen oder nach Maximen leben, doch eigentlich sehr verachte. Menschen verachten? Natürlich nicht konkret, sondern maximal angedeutet und abstrakt – ich bin doch wohl kein Misanthrop. Nun also, nachdem die Warnung ausgesprochen ist und ich haarscharf an einer „Menschenverachterplakette“ vorbeigeschrammt bin, zum eigentlichen Thema. Mir schien bei Auswahl desselbigen nicht besonders viel übrig zu bleiben: Diskursbestimmend ist seit zwei Monaten eine eigentlich minimale Geschehnisentwicklung irgendwo im Osten unseres geliebten Kontinents, welche mich, um ehrlich zu sein, zunehmend langweilt. Ich hätte eigentlich gerne statt des nun erschei- nenden Textes ein Interview mit einer ehemaligen Bekannten von mir geführt, welche Aufgrund der derzeitigen Restriktionen gegen rechtschaffene russische Raubtierkapitalisten fast am Hungertuch nagen muss, in ihrer schönen Altbauwohnung in Schwabing, welche ihr Herr Papa glücklicherweise gekauft und nicht angemietet hatte (sonst könnte sie wohl derzeit ihre Miete nicht begleichen (wie un- angenehm!)). Leider Gottes muss unsere wunderbare Publikation auf dieses Interview verzichten– Grund: „Wenn das rauskommt, dass ich das bin, dann kann ich meine digitale Existenz direkt wegwerfen, dann kommen diese ganzen Moralapostel und lynchen mich, was mir denn einfällt mich zu beschweren als Russin und Altbauwohnungseigentümerin“. Ich habe das Argument einigermaßen verstehen können und hatte fast ein wenig Mitleid mit meiner lieben ehemaligen Bekanntschaft – bis sie mir eine digitale Ansichtskarte (einen Snap) aus Dubai schickte, wie sie sich im Nikki Beach vergnügt. Ihr geht es wohl wieder gut, meines Mitgefühls bedarf sie wohl nicht mehr. Aber ich schweife schon wieder ab. Verletzte Gefühle sind allgegenwärtig und weltbestimmend und dabei doch nichts anderes als ein Produkt gescheiterten Erwartungsmanagements. Egal ob erlebter Rassismus, Bodyshaming, Nicht-Ernstgenommenwerden, ein guter alter Korb von der Angebeteten, oder was einem sonst noch so ein mulmiges Gefühl der Wut oder Trauer beschert, all das ist an sich noch keine Verletzung, sondern wird von der Empfängerperson in eine solche verwandelt. Wären die Empfänger:*_Innen nicht mit einer solch hohen (moralischen) Erwartung an ihre Mitmenschen und einem so dünnen Fell ausgestattet, so wären viele der leidigen Diskurse, welche in immergleichen Schleifen von den immergleichen Quängelklitschen ausgetragen werden, von heute auf morgen vorbei. Nicht nur dass ich dann beim Aufschlagen meiner Zeitung endlich meine Ruhe hätte, ob ein Wort nun per Doppelpunkt, Stern oder Unterstrich getrennt würde und welches Suffix man darauffolgend verwendet, nein auch größere Probleme wären mir nichts, dir nichts postwendend gelöst. Besagte Geschehnisse im Osten würde es nicht geben, wenn nicht ein kleiner Neomonarch die Erwartung an die Weltgemeinschaft hätte, ernst genommen zu werden. Dass beispielsweise der ehemalige POTUS unseren kleinen Wladimir als Regionalmacht bezeichnete, hat bei ebendiesem vermutlich ähnliche Zustände ausgelöst, als würde man ein Muckibudenerbsenhirn als „kleinen Pisser“ bezeichnen. Kleingemächtige Männer neigen bei solchen Missachtungen zu erratischen Ausfällen und das nur, weil sie verfehlt davon ausgehen, dass ihre Mitmenschen ihnen einen gewissen Respekt schulden. Ähnlich verhält es sich mit radikalen Mi- nimaos die, wenn sie auf Twitter vom politischen Feind nicht gebührlich behandelt werden, diesem eine Horde ihrer Minimaominions zum Canceln vorbeischicken und nicht ruhegeben wollen, bevor nicht der letzte Ulf Poschardt dieser Welt noch ausradiert wurde. Das Canceln im Allgemeinen ist nichts weiter als die zum Ausdruck gebrachte Hilflosigkeit der „Aufgewachten“ wenn sie einmal mit Aus- sagen konfrontiert werden, welche nicht in ihre Sanft&Sicher-Welt hineinpassen wollen. Durch die ständige gegenseitige Bestätigung in seltsamen Blasen und Kommunen verlernt eine ganze Generation von Nachwuchsmeinungsmachern, dass die Welt nicht unbedingt ein Safe Space aus Zuckerwatte ist. Wenn ihnen ihr vermeintliches Wahrheitsmonopol nun von anderen abgesprochen wird, so sind sie tief gekränkt und ziehen los zur nächsten Inquisition. Dieses Phänomen ist jedoch nicht nur auf der woken Seite der aktuellen Debatten zu beobachten, sondern nicht minder bei unseren Blauhelmen im Bundestag. Durch Krawall und Belästigung und schlechte Manieren versucht die Weideltruppe seit einigen Jahren ein möglichst großes Stück vom Aufmerksamkeitskuchen für sich zu beanspruchen. Wenn der erhoffte und erwartete Erfolg ausbleibt, lümmeln sie miesepetrig in Talkshowsesseln herum und wenn die Einladungen zu diesen ausbleiben, dann geht das Gezeter erst recht los. Im Grunde verhält sich der gesamte Politik- und Medienbetrieb wie eine schlecht zu- sammengestellte Klasse einer Vorschule: Alle beleidigen, alle sind beleidigt und alle zelebrieren ihre Verletztheit in größtmöglichem Umfang.
Bestes Beispiel hierfür ist aktuell der ukrainische Botschafter in Berlin. Monsieur Melnyk pöbelt seit Wochen wie ein Poltergeist durch Berlin Mitte und stößt jedem, der ihm vor die Flinte springt, erst einmal ordentlich vor den Kopf. Auf der anderen Seite waren seine Gefühle nach einem Gespräch mit CL so sehr verletzt, dass er sich erst einmal ausweinen musste. Melnyk verbindet eine robuste An- standslosigkeit mit solch einem dünnen Fell, dass man sich nur fragen kann, wie ein solcher Mensch denn Diplomat werden konnte. Dem Randalerüpel Melnyk sowie den meisten anderen sei – um gefühlte Verletzungen möglichst zu meiden – an dieser Stelle geraten, ihre Erwartungen an ihre Mitmenschen ein wenig herunterzuschrauben und die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen. Den Lesern dieses Textes sei abschließend geraten, eine vegane Matchalatte zu sich zu nehmen, sich zu beruhigen und möglichst leise zu weinen.
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