Ragazzi, wisst ihr noch, als ihr das erste Mal Wein probiert habt? Beim ersten Glas hat es noch nicht so gut geschmeckt, beim zweiten war es schon besser und spätestens seit dem dritten Glas löst Wein für viele von uns Entspannung und Sehnsucht nach Dolce Vita aus. Vino Rosso im Winter, Vino Bianco im Sommer. Es soll in diesem Artikel aber nicht um Wein gehen. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys (RB&DAB) sind quasi der gute Wein der Musik. Passenderweise hat die Italo-Schlager-Truppe auch für beide Arten Songs in ihrer Diskographie: „Vino Rosso“ und „Vino Bianco“ (als Feature mit Mola).
Warum sollte man sich 2022 für eine Schlager-Band interessieren, die in ihren Songs generisch „Vino Rosso/Rot wie die Liebe“ oder „Und an der Ponte di Rialto singen die Gondolieri von Amore“ schmettert? Die Band hat eine kleine, aber wachsende Kult-Fangemeinde. Und das obwohl ihre Biographie relativ unoriginell ist: Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys (Vorname: „Abbrunzati“, Nachname: „Boys“, „Die“: künstlerische Freiheit) lernen sich 1982 in Sirmione am Gardasee kennen und gründen die Band, wachsende internationale Bekanntheit nach der Auszeichnung „Bester Nachwuchskünstler“ beim Internationalen Schlagerfestival in Rio de Janeiro 1984, in dieser Zeit Aufnahme der Showband, 1997 Trennung nach bandinternen Konflikten. 2016 das große Comeback, 2020 erscheint die Compilation „Greatest Hits“, 2022 folgt zum 40-jährigen Bandjubiläum das neue Album „Mille Grazie“.
Fast nichts davon ist wahr. Was stimmt: „Greatest Hits“ ist in Wahrheit das Debüt-Album der Band, trotz der Zusätze „ – Remastered“ hinter jedem Track. „Mille Grazie“ hat es dank cleverer Promotion direkt nach dem Release auf Platz 1 der deutschen Album-Charts geschafft. Das war es aber auch fast schon.
Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys sind eine clevere Inszenierung zwischen Hommage und Persiflage an die deutsche (Schlager-)Kultur, irgendwo auf dem Grat zwischen Kunst- und Trashprojekt. Die Mission dahinter ist klar: die deutsche Sehnsucht nach dem italienischen Lebensgefühl, nach dem Roadtrip über die Brennerautobahn zum Camping an der Adria gleichzeitig zu reproduzieren und zu problematisieren. Gerade darin besteht die große Stärke der Truppe: Der bedingungslose Eskapismus des „ernst gemeinten“ Schlagers ist heute nicht mehr tragbar. Trotzdem hat die Realitätsflucht etwas an sich, das auch heute noch wirkt. Wenn Künstler wie RB&DAB ihre Vorbilder gleichzeitig auch parodieren, bleibt der Eskapismus nicht bedingungslos, sondern legitimiert eine Auszeit an stürmischen Tagen. Die erste Strophe von „Ponte di Rialto“ zeigt dieses Prinzip ganz gut: „An der Piazza San Marco/zwischen Tauben und Cafés,/hab‘ ich dich längst gefunden/bella ragazza vom Comer See./Das Wasser zu den Knöcheln,/ein Gefühl von Ewigkeit./Diese Lippen muss ich küssen,/damit es immer so bleibt.“
Das idealisierte, „ewige“ Venedig wird durch die harte Realität von Tauben, (touristischen) Cafés und alljährlichem Hochwasser untergraben. Hier wird aber auch deutlich, dass sich Idealität und Realität gar nicht unbedingt widersprechen müssen. Auch im touristischen Venedig, das von der Klimakrise überschwemmt zu werden droht, kann Liebe existieren. Die Ambivalenz der neuen Zeit … sozusagen.
Entsprechend schaden Krisen der Gruppe gar nicht unbedingt. Natürlich traf die Corona-Pandemie 2020 RB&DAB hart. Das Momentum, das die Truppe über rund vier Jahre aufgebaut hatte, drohte ins Stocken zu kommen. Doch die Stärke des Schlager-Eskapismus wirkt langfristig: Wenn im Corona-Alltag gar nichts mehr geht, kein Urlaub, keine Konzerte, im Winter nicht einmal mehr die Sonne scheint, bleibt noch die Flucht ins imaginative Italien von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys. Hier wird pausenlos Vino, Aperol oder Spumante getrunken, man bewegt sich mit dem Ferrari Maranello zwischen San Remo, Venedig oder Napoli und hat Romanzen mit einer bella Giulia, Antonella oder Ragazza vom Comer See. Besonders dieses geistige Bild dürfte dafür gesorgt haben, dass die Band auch während der Pandemie immer populärer wurde. Dass es in Italien auch mal heiß und voll sein kann oder die Autofahrt nach Sizilien sich bis ins unendliche zieht? Ist egal oder wird wegromantisiert. Spielt aber auch überhaupt keine Rolle, wenn man an einem November-Donnerstag bei strömendem Regen aus dem Rewe läuft und noch 15 Minuten vollgepackt mit dem Rad nachhause fahren muss. Wenn man dann auch noch ein bisschen überspitzt die Rolle der Schlagergötter spielt, darf das sogar ein bisschen heteronormativ und jovial sein. Witzigerweise ist in diesem Programm dann auch „echte“ Werbung für Lidl, Tiefkühlpizza oder Aperol überhaupt nicht abwegig. Wer eine solche Agenda verfolgt, kann „authentisch“ für seine Werbepartner:innen auftreten. Ob diese real sind oder nicht – Hauptsache die Marken und Unternehmen passen ins Italo-Schlager-Image. „Unterhaltung mit Haltung“ nennt die Band das dann.
Sicher ist das jetzt alles eine Frage der Einstellung: Darf man als Band Kommerzialisierungsstrategien verfolgen, wenn diese ins eigene Image passen, sofern sich dieses im Subtext kritisch mit den dahinterliegenden Strukturen befasst? Diese Frage muss jede:r für sich selbst beantworten. Aber wenn man dieses Prinzip beachtet, lässt sich der Eskapismus mit etwas besserem Gewissen praktizieren. Und außerdem: Man kann Sommermusik ja auch im Sommer hören. Jedenfalls haben Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys einige Songs im Programm, die bald auch im Hofgarten aus diversen Bluetooth-Boxen dröhnen könnten – die Realität holt uns schon irgendwann wieder ein. Und wer nach dem dritten Versuch immer noch keinen guten Wein mag, dem kann man nur sagen: Non hai capito, stronzo!