von Moritz Vogt mit Zitaten von ukrainischen Studierenden aus Lviv
1560 Kilometer sind es von Bayreuth bis zur Front. Genauer gesagt nach Херсон (Kherson), einem der westlichsten Punkte der von Russland okkupierten Gebiete innerhalb der Ukraine. Seit dem 24.Februar versuchen die Streitkräfte der russischen Föderation die Ukraine und ihre Bewohner*innen zu „befreien“. Dieser Angriffskrieg, die Eskalation der Besetzung des Donbass ‘ und der Annexion der Krim hat bisher zum Tod mehrerer tausend Zivilist*innen und Soldat*innen auf Seiten der Ukraine und immenser Zerstörung ziviler Infrastruktur geführt.
Die Invasion Russlands ist nicht der einzige gewaltsame Konflikt, der sich im Moment auf der Welt abspielt, doch aus deutscher Perspektive zeichnet er sich erstens durch seine Nähe zu uns und zweitens durch seine mediale Präsenz aus. Der öffentliche Diskurs über Deutschlands Position zum Krieg hat einen realen Einfluss auf die Geschehnisse in der Ukraine, wie der kürzlich von der „EMMA“ veröffentlichte „offene Brief an Kanzler Olaf Scholz“ zeigt.
Das Dokument hat für viele Reaktionen gesorgt. Ich will mich in diesem Artikel auf die Wut konzentrieren, die er bei ukrainischen Bekannten und mir ausgelöst hat und die Frage, welche Forderungen für den Diskurs trotzdem relevant sind.
Den offenen Brief in ganzer Länge findet man im Internet, die wichtigsten Punkte sind die Folgenden: Scholz soll bitte keine weiteren Waffen an die Ukraine senden, sondern einen Waffenstillstand auf diplomatischen Weg herbeiführen, um einen dritten Weltkrieg und das Sterben in der Ukraine zu beenden. Die Verantwortung für eine Deeskalation läge auch in seiner/der ukrainischen Hand.
Das niederschmetterndste Argument des offenen Briefes ist seine Täter-Opfer Umkehr, die in ihrem Ton an die russische Rechtfertigungsstrategie erinnert: „Die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt geht auch denjenigen an, der dem Aggressor ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefert“, heißt es dort. Wer die Ukraine unterstützt, gibt also Russland einen Grund zum Erstschlag, dementsprechend lieber gar nichts machen? Nein, so weit wie etwa Sarah Wagenknecht oder Richard David Precht, die schon seit dem Beginn des Krieges eine Kapitulation der Ukraine fordern , gehen die Unterzeichner*innen nicht. Nur militärisch unterstützen soll man die Verteidiger*innen bitte nicht, denn dann könnte es auch für uns brenzlig werden. Stattdessen beruft man sich auf den Pazifismus und fordert „Friedensverhandlungen“.
Zunächst ein Kommentar von Roman aus Львів (Lviv), in Bezug auf diesen privilegierten Pazifismus: „Menschen, die in westlichen Ländern leben, in denen es keinen Krieg gibt, die sich nicht an den Krieg erinnern können, begreifen das Konzept eines in Echtzeit geschehenden Völkermordes nicht. […] Es ist leicht, Pazifist zu sein, wenn man nicht im Krieg ist. Es ist schwierig, Pazifist zu sein, wenn man unter Beschuss steht. Ich kann mir vorstellen, dass es für westliche Intellektuelle einfacher ist, Putins Forderungen anzuerkennen und ihr Leben ungestört fortzusetzen. Aber für uns gibt es unter diesen Umständen keinen Frieden.“
Ein Gedankenexperiment: Wie sähe eine Verhandlung zwischen Russland und der Ukraine, die zu einem dauerhaften Waffenstillstand führt, aus? Es bleibt eine Fiktion, denn seit Russland offiziell die Eroberung von Київ (Kyiv) und der gesamten Ukraine aufgegeben hat, ist Putins Verhandlungswille stark gesunken. Im offenen Brief strebt man „einen Kompromiss, auf den sich beide Seiten einigen können“ an. Allein schon dieser Satz ist unfassbar. Roman hat dazu folgendes zu sagen: „Es wäre großartig, wenn alles am Verhandlungstisch lösbar wäre, mit einer Tasse Kaffee, ein bisschen Smalltalk und am Ende unterzeichnet man einen Vertrag. Aber um etwas auf diese Weise zu lösen, muss man bereit für eine Diskussion sein und die Position des jeweils anderen respektieren. Das trifft leider nicht auf Russland zu. Russland hat die Ukraine nicht angegriffen, um mit uns diplomatisch zu verhandeln. Ein Kompromiss kann nicht erreicht werden, wenn man sich diametral gegenübersteht.“
Wer anerkennt, dass dieser Krieg ein imperialistisches Unterfangen ist, unternommen von einem autoritären Staat, der die Souveränität des angegriffenen Landes nicht anerkennt und dessen nationalistische Ideologie im Kern chauvinistisch gegenüber nicht-russischen Menschen ist, der wird verstehen, wie aussichtslos fruchttragende Friedensgespräche sind. Man muss sich mit der Geschichte dieses Konflikts, der Propaganda des russischen Staates und den Verbrechen gegen die Menschheit, die in besetzten Gebieten geschehen, auseinandersetzen, um zu diesem Schluss zu kommen. Mein Vorwurf an die Unterzeichner*innen des Briefes lautet, dass sie dies nicht getan haben.
Aber was ist mit der Angst vor dem dritten Weltkrieg? Diese Angst ist natürlich berechtigt, doch über die Gefahr eines Atomkrieges ist sich die internationale Konfliktforschung uneinig, insbesondere über den Einfluss der Unterstützung westlicher Staaten in der Verteidigung der Ukraine. Der amerikanische Kongress hat vergangene Woche Unterstützung in der Höhe von 40 Milliarden Dollar beschlossen und in der gleichen Woche hat der Kreml jeglichen Einsatz von Atomwaffen ausgeschlossen. Russland ist sich dessen bewusst, dass es einen Atomkrieg ebenso wenig wie der Westen überleben würde, was die Situation natürlich nicht weniger risikobehaftet macht.
Was die Briefautor*innen unterschätzen, ist dass die Bundesrepublik Deutschland die gesetzliche Situation in Bezug auf die Frage, wer Teilnehmer eines Konflikts ist, sehr genau kennt und nicht überschreiten wird. Sofia, ebenfalls aus Lviv, merkt zu Deutschlands Beteiligung am Krieg folgendes an: „Es wäre ok, wenn Deutschland keine Waffen an uns sendet. Aber so lange wie ihr russisches Gas kauft, mit dem der Krieg finanziert wird, ist es töricht solche Briefe zu verfassen.“
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