Der Alltag im Krieg
Constance Viehbeck
Ich liege im Bett. Das einzige Geräusch, das ich vernehme, ist mein Atem. Ich spüre weder Arme noch Beine – Mein Körper ist taub.
Die letzten Tage habe ich geweint, viel geweint. Nach dem Anruf meiner Großtante, die sagt, sie sieht keinen Sinn darin, zu fliehen; während den Gesprächen mit unserer Freundin, deren Mutter in Mariupol lebt und nicht erreichbar ist; aufgrund der Erkenntnis, dass die meisten bleiben und kämpfen wollen. Und als meine Freundin nachts in einem Auto 20 Kilometer entfernt einer Explosion um ihr Leben bangt.
Mittlerweile ist die Tatsache, dass in Europa Krieg herrscht, bei uns allen angekommen. Doch wie gehe ich damit um? Ich fühle mich schuldig, weil ich nur durch Glück hier bin – in Sicherheit. Ich kann weder kämpfen, noch meinen Mitmenschen unmittelbaren Beistand leisten.
Haben meine Sorgen überhaupt eine Existenzberechtigung? Darf ich leiden, wenn mein Zimmer nicht von einem möglichen Bombenanschlag bedroht wird? Ich weiß, dass es niemandem hilft, wenn ich mein eigenes Leben pausiere, nur weil ich vom Leid und Elend meiner Landsleute übermannt bin. Doch was, wenn die Kraft fehlt, mich aufzurappeln?
In mir kreischen Stimmen des Leids. Gleichzeitig herrscht eiserne Stille; kein Wegweiser, der mir sagt, wie ich nun fühlen oder handeln soll. Ich bin wütend darüber, dass Menschen einfach mit ihrem Leben fortfahren können. Den Anschein erwecken, die Not nicht zu erkennen. Ohne so offensichtlich zu leiden. Meine eigenen Ziele sind verschwommen. Wie kann ich über meinen Master im Ausland fantasieren, wenn die Familie in unserem Wohnzimmer nicht weiß, wo sie morgen schläft?
Ich schreibe meiner Freundin in Moskau und will wissen, wie es ihr geht. Mal sehen ob meine Nachrichten sie erreichen. Ja, ich könne ihr noch problemlos über WhatsApp und Instagram schreiben, sie benutze VPN, sagt sie. Sie erzählt von ihrer Angst, dass die ganze Welt ihr Land nun hasse. Ihr Traum war es immer, Russland zu verändern – durch kritischen Journalismus. Die Situation in Russland habe sich verschlechtert. Sie kann mir keine weitere Auskunft geben. Kritik an dem Regime kann schnell lebensgefährlich werden, vor allem seit Kriegsbeginn.
Ich schließe die Augen und fühle mich zerrissen.
Das Einzige, was mir bleibt, ist in meinem Wirkungsradius zu agieren. Das sagt auch meine Psychologin. Spenden sammeln, verpacken, in den LKW laden. Sammeln, verpacken, verladen. Sammeln, verpacken, verladen. In diesem Turnus gehen auch die Bilder der einstürzenden Gebäude und der schreienden Mütter durch meinen Kopf. Weiterzumachen, ist wohl das Einzige, das mir bleibt. Ich muss lernen, mich aus dieser tiefen Dunkelheit zu ziehen. Aber wie?
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