Eh schon wieder zu spät losgekommen, laufen hilft, die Zeit zurückzugewinnen. Trotzdem vier Minuten zu spät – schweißgebadet rein ins fremde Büro. Verdunstender Schweiß und nach Rauch stinkender Atem treffen sich in der FFP2-Maske. Runter mit dem Schutz und kurz dem Personalbeschaffungspersonal das netteste Lächeln präsentieren, um die Spuren der eigenen Verlorenheit zu verwischen. Erstmal die Frage nach dem aktuellen Befinden überwinden, wie soll es schon gehen. Frage-Antwort-Schlagabtausch um die Grenzen auszuloten. Wo ist der Schwachpunkt? — “Was sind Ihre Schwächen?” — Tausende Dinge kommen in den Sinn. Welche aus dem prall gefüllten Potpourri kann man guten Gewissens offenbaren? Welche ist am sympathischsten? Ist die Frage nicht eigentlich zu persönlich? Vielleicht was Witziges – dass man manchmal die morgendliche Zahnreinigung vergisst? Oder darf’s auch etwas kokett zugehen – die Schwäche für ältere Männer? Naja, keine Ahnung. Panik, weil das Thema nicht zur Gänze reflektiert wurde. In welchen Momenten fühlt man sich schwach? Naja, zum Beispiel in einer vom Patriarchat geprägten Welt; das Löschen des Instagram-Accounts, nur um dann zwei Stunden später eben selbiges ungeschehen zu machen; aus Versehen ohne BH in die Arbeit zugehen; der verzweifelte Versuch Süchten und Sünden zu widerstehen. Schwäche kommt Hand in Hand mit Scham. Verdrängung als Abwehrmechanismus. So genau will man das alles eigentlich nicht reflektieren. Eine Frage jagt die nächste, aber woher nur die Antworten nehmen? Auf solche wartet auch das Gegenüber und hier scheint es eine Situation zu sein, die einer Rechtfertigung bedarf. Was sind das auch für scheiß Fragen, die nächste Frage dreht sich um den letzten Stuhlgang, oder was? Wut schleicht sich die Kehle hoch, wie schwer es doch ist, jenen Zorn wieder hinunter zu würgen. Scheiße schlucken. Grade jetzt fühlt man sich schwach, bei der Erkenntnis, dass die notwendige Resilienz und Professionalität für diesen Scheiß hier fehlt. Was will die Firma und das Leben vom Individuum? So eine Scheiße. Heutzutage ist die Persönlichkeit unabdinglich für die ‘personal brand’, welche eine Firma zur Unternehmung macht. Doch wo ist die Grenze des Mitteilens? Wo hört Privates auf und wann fängt Professionelles an? Was ist mit politischen Meinungen? Was ist mit dem Familienhund, der letzte Woche eingeschläfert werden musste? (Armes Paulchen…) Gedankliche Abschweifungen und die simultane Entstehung unübersehbarer Schweißflecken unter den Armen. Das ist schon wieder so unangenehm und die Scham darüber lässt die Wangen erröten. So eine Scheiße. Chiffren müssen entziffert werden. Eine Antwort auf das Rätsel der eigenen Schwächen muss her. Eine, die so nichtssagend ist, dass Widersprüche vermieden und lästige Nachfragen mit einfach konstruierten Lügen beantworten werden können.
Tief Luftholen für ein unanfechtbares Plädoyer. Ein Versuch der sachlichen Analyse, um den inneren Konflikt zu vertuschen: “Da muss man schon differenzieren. Was meinen Sie mit Schwächen? Etwa die eigenen Schwächen, die im Alltag an sich selbst beobachtet werden können, so wie eine kleine Portion Ungeschick? Oder aber eben jene Schwächen, die auf kulturellen und strukturellen Schwächen in Gesellschaft und Wirtschaft fußen? Die Schwächen, die aus einer veralteten Erziehung oder einem überholten Bildungssystem resultieren? Der starke, aber schwachsinnige, weibliche Irrglaube, ohne Penis zur Mathematik nicht fähig zu sein, weil sexistische und misogyne Lehrer ihr skandalträchtiges Gedankengut reproduzierten? Stichwort ‘Self-fulfilling prophecies’. Das Thema Schwäche kann nicht nur aus persönlicher Sicht beantwortet werden, denn nicht zu vergessen sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwächen, oder jene persönlichen Schwächen, deren Ursprung kulturell, gesellschaftlich oder wirtschaftlich zu erklären sind.” — Es wird klar: sachlich und zielführend war keines dieser Worte. Dass sich das Gegenüber das Gleiche denkt, merkt man an dessen fragenden Gesichtsausdruck. Überforderung zeichnet dessen Mimik. Ist das da etwa Schwäche, die zu überspielen versucht wird? Man merkt, es ist unangenehm, so leicht zu lesen zu sein. Schwäche – niemand will sie haben oder sich eingestehen. Aber ist es kein erleichterndes Gefühl zu sehen, dass andere auch zu kämpfen haben? Zumindest nur das Gefühl zu haben, man könne einen Blick hinter die glatt polierte und glänzende Fassade werfen? Anderen beim Scheitern zuzusehen tut weh und erinnert einen selbst das eigene Unvermögen und die eigene Unvollkommenheit. Das ist doch alles scheiße. Die Schwächen von anderen sind oft nur mit Mitleid zu ertragen. Sind Schwächen mit Verachtung zu begegnen? Sollte man sie ausmerzen und mit Stärken ersetzen? Oder lieber unter Schwächen leiden. Macht “schwach” Sinn? Stopp mit diesem wirren Gedankenwirrwarr, es ist hier grad immerhin eine Geschäftssituation zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitersuchenden. Gut, die Stille mit einer Beschwichtigung durchbrechen, wie das Doubletexting des Dialogs. — “Naja, man merkt die Spuren des Philosophiestudiums, oder?” — Kurz gerettet. Wo bleibt das nächste Fettnäpfchen? Ah, hier, voll reingeschissen. Ein diplomatisches “Danke” wird entgegnet, weiter zur nächsten Frage und Blamage. Nun gut, wann hat dieser Spaß hier ein Ende? Die Zeit scheint in diesem Büro still zu stehen. Jalousien unten, man hört aus den oberen Geschossen die Klospülung – vermutlich sechstes OG. Beleuchtet von verstaubten Neonröhren hat das Trauerspiel ein Ende. Eine der Röhren scheint in warmem statt kaltem Weiß und macht erst die Tristesse und Anonymität klar, in die der Raum getaucht ist. Raus hier. War schon alles unangenehm genug. Schwache Leistung aller Beteiligten.
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