Anonym
Irgendwann zwischen Nacht und Tag: Die Straßenbahn fährt nicht mehr unter dem Fenster entlang. Ich wache auf und die Zeitlosigkeit dieses Lochs im Strom des Stadtlärms, diese frühesten Morgenstunden sind so beruhigend, dass ich sie ausdehnen möchte, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass meine Gedanken nicht mehr anarchistisch durch meine Nervenbahnen hasten. Aber mit dem Ausdehnen reißt das Konzept der Zeitlosigkeit und die Lücke weicht der Realität.
Jetzt ist es auf einmal 21:21 Uhr und durch mein offenes Fenster und dem Erker im gegenüberliegenden Haus erahne ich den Sonnenuntergang, den sich bestimmt viele Menschen anschauen und dabei so viel fühlen, weil sie so viel fühlen wollen. Die den Sonnenuntergang sehen oder ahnen und fühlen und denken, das ist Leben, mit dieser Kombination aus menschlichem Allerlei. Und ich ahne weiter den Untergang und überlege, wem ich davon erzählen könnte, dass mein Nachbar in seinem Erker steht und sich seinen eigenen Untergang anschaut und mir damit die Sicht versperrt.
Mit Menschen, die ich mir selbst gegenüber als Bekannte und Anderen gegenüber als Freunde bezeichne, trinke ich ein Bier. Die Sonne geht passenderweise wieder einmal unter und ich fühle mich wohl genug, um es nicht zu kommentieren. Das aktuelle Gesprächsthema ist irgendwie tiefsinnig, aber ich habe es verpasst, zum richtigen Zeitpunkt voll mit einzusteigen. Wozu das Ganze, wozu dieses Wortgeklaube und diese Versuche sich verständlich zu machen, wenn ich mich dann am Ende doch nur so wirklich in meiner Straßenbahnlärmlücke leicht fühlen kann. Woher bekomme ich auch diese Geborgenheit und dieses Wir-Gefühl, das jetzt alle haben oder zu haben scheinen? Zeigt mir mal jemand die Knöpfe, die ich drücken muss, damit mich genau diese Momente, dieses Bier-Sonne-Bar-Triptychon, dieses linke Mallorca, damit mich das auch so erfüllt.
Ich will mir mein Dasein auch ohne Halt/ durch diese beengte Wortgewalt denken können/ Und nachts nicht jeden Satz im Kopf zu Brei zerkauen/ Wieder und wieder/ Sprachlosigkeit verspüren/ Und mir Worte, satt mit fremdem Sinn für mich und uns/ aus dem Hals kratzen/ nur damit ich weiß, dass ihr wisst, wer ich vermeintlich bin.
Mittlerweile, das heißt – später: In meinem Zimmer stehen diverse Dinge, die meine Persönlichkeit widerspiegeln sollen. Wenn Menschen mich besuchen, oder auch nur einen beiläufigen, eigentlich desinteressierten Blick durch die Tür werfen, soll das, was sich für mich anfühlt wie Pfützen, sich als glatter See präsentieren.
Die Leichtigkeit verloren zu haben klingt traurig, aber nicht erschütternd genug, um es anderen extra zu erzählen. Nicht so wirklich traumatisierend und irgendwie auch milde selbstverschuldet. Und Verlust ist auch eins dieser großen Wörter – ich denke, sie ist mir eher durch die Finger geronnen, ohne dass ich wirklich wusste, dass da was war. Und sich jetzt so in ihrer Abwesenheit zu suhlen, dass ich schreibe und dichte und mir diesen Zustand meiner Welt, da wo sie steht und ich in ihr und wo der ganze Rest, alles erklären will. Ja, das ist bestimmt Teil davon. Als die verstanden zu werden, die ich denke zu sein, ist besonders schwierig, wenn ich mir sicher bin, dass es auch Dinge gibt, die ich explizit nicht bin, die ich aber nicht in Worte fassen kann. Na gut, denke ich, dann bin ich eben statt Pfützen Matsch und anstatt, dass ich einen See ersehne, nehme ich den umgegrabenen Acker.
Und ich möchte wütend und unsicher durch meinen Matsch stapfen können, im Nieselregen und bei Sonnenuntergang. Ich will niemandem erklären müssen, warum manche Stellen stärker umgegraben sind als andere und ich möchte nicht mehr das regelmäßige Bedürfnis haben, mir selbst ins Ohr zu schreien: Halt halt halt doch mal den Mund! Nur um dann festzustellen, dass ich mich doch nur an diesen breiigen Worten von früher festhalten kann. Ich möchte Regenwurm sein oder Maulwurf und mich eingraben, und mich wohlfühlen in meiner Blindheit, in meiner vermeintlichen Orientierungslosigkeit, die ja nur eine ist, wenn es ein konkretes Ziel gibt, auf das man zusteuert.
Das reale Ackergefühl dieses Sommers ist sicherlich nicht die totale Befreiung, und auch nicht ein Moment glückseliger Verbundenheit. Es ist klumpig und dann wieder ausgedörrt, man schwankt zwischen Gummistiefelspaziergängen und Barfußlaufen, bei dem einem dieser Urschlamm zwischen den Zehen hervorquillt. Auch auf dem Acker fühle ich mich oft sprachlos, als wäre da etwas zwischen mir und diesem ganzen Rest der Welt.
Und da auf diesem Acker versuche ich mir und uns ein bisschen Leichtigkeit herbeizuschreiben.
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