Bei den Protesten in vielen kolumbianischen Städten geht es längst um mehr als die geplante Steuerreform von Präsident Duque. Unsere Redakteurin hat mit einem kolumbianischen Masterstudenten der Uni Bayreuth über seinen Umgang mit den Ereignissen aus der Ferne und seine Sicht auf die aktuelle Situation in Kolumbien gesprochen.
von Lena Fiala
Seit Ende April gehen die Menschen in Kolumbien auf die Straße. Ausgelöst durch eine Steuerreform, die vor allem die einkommensschwache Bevölkerung und die Mittelschicht, nicht aber die Reichen betreffen sollte, protestierten zahlreiche, insbesondere junge Kolumbianer*innen gegen die Regierung. Aber es geht längst nicht mehr nur um die Reform – diese wurde inzwischen zurückgezogen.
„Ja, am Anfang waren es junge Leute, aber inzwischen beteiligen sich alle Altersgruppen an den Demonstrationen.“, sagt Juan, Masterstudent an der Uni Bayreuth. Er kommt selbst aus Cartagena in Kolumbien, hat lange in der Millionenstadt Medellín gewohnt und lebt seit Anfang März 2021 in Deutschland. „Es geht um die große soziale Ungleichheit im Land, den brüchigen Friedensprozess zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung, den immer noch viel zu großen Einfluss des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe, fehlende Chancengleichheit, eine Menge Korruption und unfreie Medien.“ Diese seien auch der Grund dafür, dass die Ereignisse erst nach einigen Tagen in internationalen Medien bekannt geworden sind.
Uribe, der Kolumbien noch bis 2010 regierte, wird noch heute von vielen Bürger*innen für die Beruhigung des Landes durch das Zurückdrängen der linksgerichteten Guerilla verehrt. Obwohl er seit über zehn Jahren nicht mehr im Amt ist, zählt er noch immer zu den einflussreichsten Politiker*innen des Landes. „Sobald Uribe sagt: „Ich unterstütze diesen Kandidaten!“, wählen die Leute als Präsidenten, wen auch immer er empfiehlt. So kann er die Politik weiter steuern.“, erzählt Juan.
Besonders wütend macht ihn das Framing der zuletzt geplanten Steuerreform durch den aktuellen Präsidenten Iván Duque als „Gesetz für eine nachhaltige Solidarität“. „Die Regierung denkt, wir wären dumm. Durch Wortspiele versucht sie, die eigentlichen Änderungen zu verschleiern und die Bevölkerung hinters Licht zu führen. Wir brauchen eine Steuerreform, aber das ist einfach ein Verbrechen.“ Unter anderem durch eine Erhöhung der Einkommenssteuer für bestimmte Gruppen sollte das Loch im Staatshaushalt gestopft werden, das durch die Coronakrise entstanden ist.
Polizei und Militär gehen gewaltsam gegen die Demonstrierenden vor, mehrere dutzend Menschen sind ums Leben gekommen, hunderte verletzt worden. Die Gewalt verteidigt die Regierung mit der Behauptung, der Protest werde durch Guerilla-Organisationen unterwandert. Duque zeigt sich Ende Mai bei einem Selbstinterview auf Englisch als Hüter der Verfassung und stellt die Polizeigewalt als unvermeidbaren Fehler eines überarbeiteten Berufsstandes dar, der auf keinen Fall systemisch bedingt sei. Juan schämt sich für diesen Auftritt des Präsidenten: „Paramilitärische Gruppen werden immer in jeden Konflikt in unserem Land involviert sein, aber sie sind gerade nicht der Hauptpunkt. Jetzt geht es um die Bevölkerung gegen Regierung und Polizei.“
Ein Beispiel dafür ist für ihn die „Cultura Metro“ in Medellín. „Schon als Kinder haben wir gelernt, die Metro zu schützen und zu respektieren, mehr als unsere eigenen Familien, wir wissen, dass sie das Herz unserer Stadt ist.“ Die Metro sei der wesentliche Grund dafür, dass Medellín als fortschrittlichste Stadt des Landes bezeichnet werde. In keinem der vergangenen Konflikte sei das Verkehrsmittel deshalb beschädigt worden, das sei eine Art goldene Regel.
Doch plötzlich gibt es Brandstiftung in der Metro. Weil die Protestierenden auf sie angewiesen sind, um zu den Demonstrationen zu gelangen, tippt Juan darauf, dass die Regierung selbst für das Feuer verantwortlich ist. Davon ist in kolumbianischen Zeitungen nicht die Rede, nichtsdestotrotz zeigt dieses Ereignis eine neue Stufe der Eskalation und seine Vermutung den steigenden Unmut gegen die Politik.
Im Gespräch wird klar, wie intensiv sich Juan mit der Situation in seinem Land beschäftigt. „Natürlich mache ich mir Sorgen und stehe unter Stress. Ich kann mich da nicht rausziehen. Wenn ich die Instagram-App öffne, sehe ich sofort die Videos und Bilder von den Geschehnissen vor Ort. Da kann ich nicht einfach eine nette Story hochladen.“ Ständig checkt er sein Smartphone, wartet auf Nachrichten von seiner Familie, kann sich nicht auf die Vorlesungen konzentrieren.
Aber auch mit den übrigen Kolumbianer*innen fühlt er sich stark verbunden. „Noch weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Am liebsten wäre ich dort und würde mitmachen. Wenn es wenigstens mehr Proteste in Deutschland geben würde, bei denen ich meine Solidarität zeigen kann, würde ich mich schon besser fühlen.“
Für aktuelle Informationen über die Lage in Kolumbien ist Juan auf soziale Medien wie Instagram angewiesen. Den kolumbianischen Fernsehsendern vertraut er nicht. Wenn es Ausschreitungen bei einem Protest gibt, würden diese einfach in die andere Richtung filmen und so tun, als sei nichts passiert. Die Kommentare zu den Beiträgen von Menschenrechtsorganisationen und unabhängigen Medien auf Social Media machen es für ihn leichter, einzuordnen, aus welcher Perspektive die Kanäle berichten und ob sie die Situation wahrheitsgemäß abbilden.
Politisch interessiert und vor allem informiert zu bleiben ist dabei keine Frage des Wollens. Wo die Politik so unmittelbar in den Alltag und die Lebensqualität der Menschen eingreift, wo es um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und die Aufarbeitung eines jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts geht, wo ein Gesetz mit einem schönen Namen negative Folgen für weitreichende Teile der Bevölkerung haben kann, da dient es dem Selbstschutz, sich in diesem Dschungel an Aussagen und Informationen zurecht zu finden. Trotzdem ist die Wahlbeteiligung mit unter 50% erschreckend gering in dem südamerikanischen Land – ein weiterer Punkt, den Juan als großes Problem ansieht.
„Santos hat zwar den Friedensnobelpreis für den Vertrag mit den Guerilleros bekommen. Aber so ein Konflikt lässt sich nicht einfach vergessen. Das ist wie mit der Berliner Mauer: Es braucht viel Zeit, um nach einer Wiedervereinigung einen neuen Alltag zu schaffen.“
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