Die aufgeladene Debatte um Frauenquoten und gendergerechte Sprache ist wichtig. Dennoch gibt sie einer mehrheitlich akademischen Elite das Gefühl andere Probleme bereits besiegt zu haben – und überschattet strukturelle Gewalt und Femizide. Eine Erinnerung.
von Antje Behm
2019 wurden in Deutschland 117 Femizide erfasst. 2018 waren es 122. Ein Femizid, das sollte an dieser Stelle vielleicht erklärt werden, weil nicht einmal Microsoft Word das Wort kennt, ist ein Mord an einer Frau, der wegen ihres Geschlechts oder einer besonderen Vorstellung von Weiblichkeit begangen wird. Diese Morde werden mehrheitlich von (Ex-) Partnern begangen, also Ehemännern oder Lebensgefährten. 117 Femizide in einem Jahr bedeutet ein Mord jeden dritten Tag. Für 2020 gibt es wegen der Corona-Pandemie keine verlässlichen Zahlen, die Tendenz ist aber steigend. Der Fairness halber: mit einer unabhängigen Justiz und einem stabilen Sozialstaat steht Deutschland noch verhältnismäßig gut da.
Dieser Schutz durch den Sozialstaat und größtenteils sichere Straßen lädt dazu ein, häusliche Gewalt und Femizide als dunkle Masse abzutun und sich auf andere Debatten zu fokussieren. In anderen Ländern sind sexistische Gewaltdelikte viel sichtbarer und es lohnt sich, ab und zu einen Blick auf die Thematik zu werfen.
Die strukturelle sexistische Gewalt in Lateinamerika beispielsweise stieg über Jahre hinweg an und entfachte schließlich im Jahr 2018 eine Flut von Protesten, die selbst trotz Corona nur leicht abgeebbt ist. Das Kollektiv „Las Tesis“ in Chile wurde mit ihrer Performance „Violador en tu camino“ berühmt. Die Performance basiert auf der Theorie der Anthropologin Rita Segado, die besagt, dass Vergewaltigung eine Strategie des männlichen Machterhalts ist und selten eine Triebtat. Ziel der Bewegung ist es, feministische Theorien der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ein strukturelles Problem in Lateinamerika ist vor allem, dass für Vergewaltigungen oft keine Beweise vorliegen und diese daher nicht ernst genommen oder Täter entsprechend verfolgt werden. Nicht, dass die Strafen für schlimmere Verbrechen, wie beispielsweise Morde, fair wären. Aber ein Messer in der Brust ist immerhin überzeugender als die Aussage einer eingeschüchterten Frau.
Die Sprechchöre des Kollektivs transportieren ihre Nachricht als Ohrwurm mit viel Entschlossenheit: Die Verantwortung für Vergewaltigungen und Femizide soll nicht den Opfern zugeschoben werden, Sätze wie „was trägt Sie auch Minirock“ sind nicht akzeptabel. Die Performance ging um die Welt. Bald standen auch in Berlin Frauen mit verbundenen Augen auf öffentlichen Plätzen und protestierten. Den mutigen Frauen zur Ehre eine kleine Erinnerung: Nur weil die derzeitigen Abstandsregeln Schatten schaffen, in denen Gewalt ausgelebt werden kann, sollten wir nicht auch noch aktiv wegschauen. Wenn nur eine kleine Elite von neuen Geschlechterrollen profitiert wird das früher oder später der ganzen Gesellschaft schaden.
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