Je weniger ernstgenommen sich ein Fach fühlt, desto komplizierter gestalten seine VertreterInnen die Inhalte. Diesen Napoleon-Komplex werfen sich die Geisteswissenschaften schon seit Jahrzehnten gegenseitig vor, dabei kriegt die Soziologie regelmäßig den ersten Platz in unnötiger Komplexität. Wenn die wüssten…
Von Hanno Rehlinger
2434 Minuten, 360 Folien und 361 beschissene Grafiken und alles, was ich jetzt kann, ist wie ein richtiger BWL-Justus an meinem eigenen Hinterteil schnüffeln. 2370 Minuten, der Unterschied zwischen Differenzierbarkeit und Diversifikation, markterfolgsbezogene Erfolgsgrößen und das Elaboration-Likelihood-Model, und alles dient dem Ziel des Marketings. Dieses Ziel ist es – wer hätte das gedacht – Ziele zu erreichen. Aber bei all dieser Zielorientierung dürfen wir natürlich nicht aus den Augen verlieren, welche Verantwortung wir bei der Erreichung der Ziele haben. Oder kurz: „Marketingentscheidungen kompetent auf ihre ethische Vertretbarkeit im Rahmen der gesellschaftlichen Verantwortung des Marketing hin zu untersuchen“[sic].
Der letzten Vorlesung – dem Ethik-Teil – vorangestellt, ist die Frage eines Studenten: Warum kein Eingeständnis, oder aber eine bewusste Abgrenzung von Manipulation? Prof. Dr. Claas Germelmanns Antwort gleicht einem fürsorglich einlullenden Schlaflied. Man kann nicht um hin, sich unauffällig mit dem Mittelfinger den Sand aus den Augen zu wischen.
In einer halben Stunde verblödet sich Germelmann, allen vorausgegangenen Inhalten der Vorlesung (völlig kommentarlos) zu widersprechen. Das wirklich Ärgerliche daran ist aber, dass er stillschweigend davon auszugehen scheint, dass wir zu bescheuert sind, um zu das zu merken. Ungefähr so bescheuert wie die KundInnen, denen er einen Salzstreuer, welcher aussah wie ein Vogel, verkauft hat, indem er ihn teurer machte. Dass die von ihm so stolz erzählte Anekdote zur Preispolitik mit gesellschaftlicher Verantwortung ungefähr so viel zu tun hat, wie ein Sack Kartoffeln mit dem digitalen Kontinuum, ist an sich ja gar nicht schlimm, aber warum dann diese geheuchelte letzte Vorlesung?
Noch schlimmer ist aber eigentlich das Selbstverständnis dieser Vorlesung. Schon in der ersten Sitzung wird den 400 Studierenden erzählt, wie schwierig doch die Klausur sei, mit dem unfehlbaren Beweis des regelmäßig sehr schlechten Notendurchschnitts. Hab ich damals natürlich sofort geglaubt: Wer auch nur die Hälfte der nichtssagenden Graphiken auswendig lernt, weiß danach vor lauter Pfeilen ja gar nicht mehr, wo hier der Bogen gespannt wird.
Nun ist die Klausur 2020 aber eine Online-Klausur. Jetzt hat das Marketing-Team ein Problem: Wie sorgen wir dafür, dass eine Openbook-Klausur schlecht ausfällt, deren einzige Schwierigkeit darin besteht, Folien auswendig zu lernen? Die Lösung, genauso einfach wie unverschämt: Wir geben den Studierenden die exakt gleiche Folie, wie im Skript, aber spiegelverkehrt, oder noch besser: wir lassen sie statt der richtigen Antworten, die falschen ankreuzen. Wer das falsch macht, hat dann eben einfach keine Kompetenzen im Marketing – das ist ja klar.
Wenn man mich fragt, sollte das ganze Fach verboten werden. Aber gerade, wenn man dem Marketing was abgewinnen kann, sollte man es auch ernst genug nehmen, um nicht auf schlechte Noten als Existenrechtfertigung zurückgreifen zu müssen. Es ist ja eine weitverbreitete Überzeugung: Je schlechter der Schnitt, umso schwieriger das Fach, desto mehr kann man sich darauf einbilden, es zu unterrichten. Diese Logik geht aber leider völlig an der Lebensrealität der Studierenden vorbei, die sich mit den Noten aus eben diesen Klausuren auf Master und Jobs bewerben müssen. Was man auch vom Marketing halten möchte: Dass der Schnitt der Online Klausur aus dem letzten Semester bei drei liegt, ist ein Armutszeugnis…und zwar nicht für die Studierenden!
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