Entwicklung nicht als einseitige Geschichte verstehen

Studierende veröffentlichen eine kritische Begleitschrift zum Lehrbuch „Ökonomik der Entwicklung“. Sie wollen einen Diskurs über rassifizierende Inhalte in der Lehre anstoßen. Lehrbuchverfasser und VWL-Professor Martin Leschke bedankt sich für die Kritik und sieht sie als Beginn einer konstruktiven Auseinandersetzung

Von Helena Schäfer

Drei Studierende haben im Dezember eine kritische Begleitschrift zum Lehrbuch „Ökonomik der Entwicklung“ auf der Plattform „Exploring Economics“ veröffentlicht. Mit dem knapp 80 Seiten langen Kommentar des Lehrbuchs wollen sie einen Diskurs darüber anstoßen, welche Narrative in der Lehre verwendet werden und welche Probleme bestimmte Erzählstränge aus postkolonialer und rassismuskritischer Perspektive aufweisen. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Lehrbuch war ein Studienprojekt mit dem Titel „Rassifizierung in Bayreuth“, das im Wintersemester 2018/2019 an der Universität Bayreuth stattfand. Zu der Zeit studierten die VerfasserInnen der Begleitschrift alle den Bachelorstudiengang Geographische Entwicklungsforschung Afrikas. Ihr ganzer Jahrgang nahm an dem im Lehrplan vorgesehenen Studienprojekt teil und befasste sich in Kleingruppen mit verschiedenen Unterthemen wie Alltagsrassismus, Straßennamen oder eben der Lehre über Entwicklung. Lars Springfeld, Mitverfasser der Begleitschrift, stieß auf das Lehrbuch, da er im Nebenfach Wirtschaft studierte und deshalb die Vorlesung „Ökonomik der Entwicklungsländer“ besuchte, für die er das betreffende Buch „Ökonomik der Entwicklung“ kaufte. Es wurde von Martin Leschke verfasst und 2011 veröffentlicht, eine zweite leicht veränderte Auflage erschien 2015.

Den VerfasserInnen der Begleitschrift ist es wichtig, die Intention hinter ihrem Projekt verständlich zu machen. Julia Grau erklärt: „Ich glaube es ist sehr schwierig, über Rassismus zu reden, weil es sehr geladen ist und man sich darunter etwas bestimmtes vorstellt. Man denkt dann schnell, es wird über eine Person geredet, die in der rechten Ecke sitzt mit Springerstiefeln. Meistens ist es aber struktureller und subtiler. Das macht es so schwer, darüber zu sprechen. Es ist wichtig, zu schauen, was an deutschen Universitäten vermittelt wird und welche Geschichten erzählt werden.“ Die VerfasserInnen benutzen in der Begleitschrift meist den Begriff „Rassifizierung“. Dieser ist weiter gefasst als Rassismus und legt den Fokus auf die Konstruktion des Anderen. Rassifizierung verstehen sie als Prozess der Abgrenzung sozialer Gruppen durch die Zuschreibung bestimmter Merkmale. In der Einleitung ihres Kommentars schreiben sie: „Dabei vertreten wir die Annahme, dass die Grundlage für rassistische Diskriminierung erst durch eine rassifizierende Konstruktion von Menschengruppen gelegt wird, d.h. eine Konstruktion von wesensmäßigen Unterschieden zwischen Menschengruppen“. Diese Form der Abgrenzung könne nicht verstanden werden, ohne Weißsein in den Blick zu nehmen: „Zentral dabei ist die Selbstpositionierung Weißer Menschen als ‚unsichtbare‘ Norm, die mit strukturellen Vorteilen und Privilegien einhergeht“.

Als Methode für die Begleitschrift haben sie die kritische Diskursanalyse gewählt. Ziel dabei ist es, Macht und Machtverteilungen in einer Gesellschaft sichtbar zu machen und die Verbindung von Macht und Wissen kritisch zu untersuchen. „Dabei geht es nicht immer um das, was direkt gesagt wird, sondern auch darum, welches Bild produziert wird und dass eine sehr einseitige Geschichte von Entwicklung erzählt wird“, sagt Mitverfasserin Julia Grau. Die Begleitschrift konzentriert sich auf mehrere “Diskursstränge“ des Lehrbuchs: Entwicklung und Entwicklungsländer allgemein, „Sub-Sahara Afrika“ und zuletzt „Islam“. Für jeden Erzählstrang werden unter Schlagworten wie „Homogenisierung“, „Koloniale Sprache“ oder „Infantilisierung“ einzelne Stellen aus dem Lehrbuch zitiert und dann kommentiert.

Ein Beispiel: Unter „Inhaltliche Kritik und problematische Quellen“ nehmen die VerfasserInnen der Begleitschrift Stellung zu einer im Lehrbuch abgedruckten Tabelle, in der durchschnittliche IQ-Werte ausgewählter Länder aufgelistet sind. Im Begleittext zur Tabelle im Lehrbuch steht, dass bei einer solchen Erhebung kulturelle Unterschiede die Vertrautheit mit Tests dieser Art beeinflussen und dass nicht genau erforscht ist, wie viel Intelligenz vererbt wird oder von äußeren Faktoren beeinflusst ist. Der Autor benutzt die Tabelle in seiner Argumentation trotzdem und zwar dafür, dass mangelnde Bildung, ein von Stress geprägtes Aufwachsen von Kindern in einem schwierigen sozialen Umfeld sowie Mangelernährung die verschiedenen IQ-Werte erklären würden.

IQ-Werte als Maßzahl für gesellschaftlichen Erfolg zu nehmen und damit über Bildung zu argumentieren, halten die VerfasserInnen der Begleitschrift aus mehreren Gründen für problematisch: Beim IQ-Wert handele es sich um keine physische Eigenschaft des Gehirns, sondern vielmehr um ein statistisches Konstrukt im Rahmen einer bestimmten Intelligenztheorie. Außerdem hätten neuere Forschungen ergeben, dass verschiedene Formen menschlicher Intelligenz existieren. Zentrale Aspekte von „Alltagsintelligenz“, wie z.B. Beziehungsfähigkeit, würden nicht berücksichtigt. Bei der Argumentation im Lehrbuch entstehe der Eindruck, soziale Faktoren wie Bildung und gesellschaftlicher Erfolg ließen sich auf eine biologische Variable, nämlich IQ, reduzieren und Misserfolg ließe sich durch den Faktor „Dummheit“, also niedrigen IQ, erklären. Zudem sei ein Länderranking nach IQ-Werten unsinnig, da Gruppen an sich keine Intelligenz hätten, nur Individuen. Der IQ könne niemals dazu herangezogen werden, die Leistung einer Gruppe zu messen in der Weise wie man z.B. ein Nationaleinkommen berechnet. Besonders kritisch sei, dass bestimmten Menschengruppen eine Minderwertigkeit bezüglich ihrer Intelligenz zugeschrieben werde. Die VerfasserInnen meinen, es sei kein Zufall, dass gerade den Menschen in afrikanischen Staaten ein teils „absurd niedriger IQ“ zugeschrieben werde. Für Guinea z.B. 59, ein IQ von 70 gelte aber schon als Lernbehinderung.

Auch die Quelle der Tabelle wird untersucht. Die im Lehrbuch aufgeführte Website existiere nicht unter der genannten Domain. Unter einem längeren Link finde sich aber eine Seite, die als Quelle der Daten auf ein Buch von Richard Lynn und Tatu Vanhanen verweist. In der Begleitschrift steht dazu: „Richard Lynn ist einer der prominentesten heutigen Vertreter eines ‚wissenschaftlichen‘ Rassismus und der Eugenik sowie seit 2012 Vorsitzender des rechtsextremen und rassistischen Pioneer Fund […]. Diese Organisation wurde 1937 gegründet, um die US-amerikanische Eugenikbewegung durch wissenschaftliche Studien zu ‚Rasse‘ und Intelligenz zu unterstützen“. Das Fazit der VerfasserInnen: „Unsere Quellenanalyse bestätigt den Rassismus und die Menschenverachtung, die hinter den scheinbar neutralen Zahlen stecken“.

Auch wenn die Begleitschrift davon lebt, dass Beispiele wie diese aus dem Lehrbuch herausgegriffen und kommentiert werden, wollen die Studierenden ihren Beitrag nicht als bloße Kritik an diesem spezifischen Lehrbuch oder seinem Autor verstehen. „Unsere Motivation war von Anfang an, das Lehrbuch als Ausgangspunkt zu sehen, um sich allgemeine Prozesse anzuschauen. Wir hatten nie die Motivation, den Autor an den Pranger zu stellen. Wir wollen mit der Begleitschrift Studierende dafür sensibilisieren, sich kritisch mit Lehrinhalten auseinanderzusetzen“. Um das zu erreichen, haben sie die Inhalte der Begleitschrift auch in Form eines Seminarplans ausgearbeitet. Dieser soll das Selbststudium oder Seminarsitzungen ermöglichen, um das Lehrbuch in verschiedenen Einheiten mit Lektürevorschlägen und Aufgabenstellungen zu analysieren und sich mit Kritik aus postkolonialer Perspektive vertraut zu machen. „Wir sehen unsere Begleitschrift als Anfangspunkt und nicht als abgeschlossene Kritik. Es geht uns darum, ein kritisches Gespräch überhaupt erst anzufangen. Eine Universität sollte ein offener Raum dafür sein, das macht sie ja gerade aus“.

Das scheint auch Lehrbuchverfasser Leschke so zu sehen, den die VerfasserInnen über die Veröffentlichung informiert haben. In einer Stellungnahme erklärt er gegenüber dem Falter: „Kritik und Gegenkritik sind das Fundament des Fortschritts. Aus diesem Grund möchte ich mich für die Auseinandersetzung mit meinem Lehrbuch ausdrücklich bedanken und sehe dies als den Beginn einer konstruktiven thematischen Auseinandersetzung. Vielleicht ergibt sich ja auch ein persönlicher Austausch darüber. Ziel der Kritik ist es, „rassifizierende Bilder und Narrative“ aufzudecken. Eine solche Rassifizierung wurde von mir niemals bewusst vorgenommen oder impliziert. Als Ökonom und Wissenschaftler halte ich die Generierung von Erkenntnis über die Kategorisierung von vermeintlich angeborenen Merkmalen einer Menschengruppe schlichtweg für falsch und nicht zielführend. Da mit vielen Begriffen zum Teil jedoch auch eine „implizite Normativität“ verbunden ist, die man oft nicht bedenkt (und auch von mir nicht ausreichend bedacht wurde), aber die man bedenken sollte, werden mir die kritischen Ausführungen ein zentraler Ansatzpunkt bei der Überarbeitung sein. Insbesondere in den Bereichen „Ursachen für Armut“, „Religion und informelle Regeln“, „Entwicklung – Begriff/Phänomen“ ist die vorliegende detaillierte kritische Darstellung sehr hilfreich – unabhängig davon, ob ich sie an jeder Stelle vollständig teile.“

Leschke teilte weiterhin mit, dass er seinen Verlag über die Kritik in Kenntnis gesetzt habe und auch die Studierenden in der betreffenden Veranstaltung informieren werde. Es scheint, als würde Kritik auf fruchtbaren Boden stoßen in einem Jahr, in dem sehr vieles sehr schief ging, aber in dem zumindest das passiert ist: Struktureller Rassismus ist in das öffentliche Bewusstsein gelangt. Das ermöglicht Debatten und Gespräche, die wahrscheinlich noch vor einigen Jahren nicht so ernst genommen worden wären wie heute. Und es erfordert, dass wir uns alle an den Gesprächen, die folgen werden, beteiligen, nicht nur in der VWL.