Ein enges Familienmitglied geht bei den Querdenkern mit und hat Tendenzen zum Verschwörungstheoretiker. Der Versuch einer deskriptiven Analyse der Entwicklung einer alternativen Realität.
Weihnachten ist ein Pulk der Probleme. Familienzusammenführung vor dem Christbaum endet selten besinnlich, denn verschiedene Generationen und Weltanschauungen treffen hier aufeinander. Das soll auch so sein. Die Familie ist in der heutigen Gesellschaft eine der wenigen Beziehungen, die man sich nicht selbst aussucht, ein Kommunikationsraum, der einem vor Augen hält, dass die Welt da draußen meist ganz anderer Meinung ist als man selbst. Bei meinem letzten Weihnachten gingen die Meinungen allerdings in einer Vehemenz und Ausprägung auseinander, dass der halbwegs versöhnliche Abschied dieses Jahr durch Verstörung und Ratlosigkeit meinerseits ersetzt wurde. Denn ein enges Familienmitglied – nennen wir ihn H – geht bei den Querdenkern mit, wirft mit Falschinformationen um sich, hat trotz einwandfreier Gesundheit ein Maskenattest und befindet sich auf dem Weg zum Verschwörungstheoretiker. Dies soll nun der Versuch einer Analyse der Entwicklung eines Querdenkers und der Mechanismen im Hintergrund, die ihn dahin geführt haben, werden.
H ist ein mittelständischer Mann. Eher Mitte-Links orientiert. Früher SPD-, heute Grünen-Wähler. Kein Akademiker. Stets kritisch und interessiert am weltpolitischen Geschehen, wenn auch bis jetzt nie wirklich selbst politisch aktiv gewesen. Ein ehrgeiziger, geselliger und etwas eigenwilliger Mensch. Man hatte im Grunde immer eine gute Zeit mit ihm. Ich hatte seit jeher ein inniges Verhältnis zu H gehabt. Ich würde mir wünschen, dass es so geblieben wäre.
Im Frühling letzten Jahres hatte das große C nun auch Deutschland zu Ausgangssperren veranlasst. Während dieses ersten Lockdowns hielt ich mich in meiner Heimat, einem kleinen Dorf in der Oberpfalz, auf und verbrachte viel Zeit mit H. Das Lahmlegen der Wirtschaft bedroht die Branche, in der arbeitet. Umgewöhnung, Hilflosigkeit und grundlegende Existenzängste trafen aufeinander. Viele seiner Kolleg*innen haben im Laufe des letzten Jahres zwangsläufig ihren Beruf gewechselt. Ich spürte, dass die absolute Ungewissheit, sowohl über den derzeitigen Zustand als auch über die zukünftige Lebensversorgung, starke Unruhe und Angst bei ihm hervorriefen. Tagtäglich saß er mehrere Stunden vor dem Fernseher und schaute die Öffentlich-Rechtlichen. Corona-Spezialsendung nach Corona-Spezialsendung. Ein existenzbedrohender Einheitsbrei ohne Auswege aus der Verzweiflung. Währenddessen führte er Telefonate mit Kund*innen und Kolleg*innen, denen es genauso erging. H und ich sprachen viel über die Maßnahmen der Regierung, über seine Ängste, und beide waren wir uns einig: erst einmal abwarten, zuhören und hoffen. Nach und nach stieg sein Interesse für entgegengesetzte Meinungen, mitunter angetrieben durch Kolleg*innen und Kund*innen, die ihm YouTube- oder Facebook-Videos schickten, von Sucharit Bhakdi und Anhang. Die zeigte H mir dann, unter damals noch verhaltener Aufregung: hier könnte es etwas geben, was eine Rückkehr zu den gewohnten sicheren Umständen zu begründen wüsste. Seine Existenzbedrohung müsste nun nicht mehr einem unsichtbaren Virus zugeschrieben werden, sondern einer übervorsichtigen Regierung und einer ungenau arbeitenden Wissenschaft. Denen könnte man dann mit Argumenten entgegentreten und sich seine Autonomie zurückholen, statt Menschen im Fernsehen beim Nicht-Wissen hilflos zuzusehen. Erst wusste ich nicht viel mit Bhakdi und Co. anzufangen. Was diese YouTube-Videos und Artikel im Internet vom Mainstream am meisten unterscheidet, ist zumal, dass sie so tun, als wüssten sie genau, worüber sie sprechen, und wie genau sich alles in Wirklichkeit verhielte. Dies ist klarerweise eine Haltung, die in der derzeitigen Situation eigentlich schon grundlegend zu hinterfragen war. Dies versuchte ich H früh klar zu machen und gleichzeitig nachzuvollziehen, warum dieses große Interesse an gänzlich ungesicherten Ansichten bestand. Schnell wurden die Argumente Bhakdis und Konsorten durch eine Vielzahl von Expert*innen widerlegt und endlich konnte ich H mit gefestigteren Argumenten entgegnen, was meist zu Einsicht und Verständnis führte. Jedoch nur so lange, bis das nächste Video, der nächste Alternativexperte und der nächste Zweifel auftauchte. Und hier hätten eigentlich schon längst die Alarmglocken bei mir läuten sollen. Ich merkte nicht, dass sich hinter den einzelnen Videos und Artikeln schon ein ganzes Netz der Skepsis aufgebaut hatte. Das Internet war die Ausflucht aus dem Einheitsbrei der etablierten Medien. Es reichte nicht aus, eine einzelne Zelle mit dem gezielten Argument einfach abzutöten. In den Newsfeeds Hs breiteten sich die alternativen Fakten mehr und mehr aus und schufen eine kleine Parallelwelt, die sich immer weiter als große gleichwertige Gegenmeinung zum Mainstream etablierte. Mit Ende des Lockdowns ging ich dann wieder meinem eigenen Leben nach und traf H nicht mehr in der vorherigen Regelmäßigkeit. Und wenn, dann war das große C eher unwichtig. Es rückte in den Hintergrund. Der Sommer normalisierte die Verhältnisse. Zumindest für mich. Was ich nicht wusste: die infizierten Algorithmen keimten weiter, die digitale Filterblase festigte sich, die alternative Wirklichkeit wurde mehr und mehr zur möglichen Realität für H.
Nun, an Weihnachten also, sollte mir das Ausmaß der digitalen Infektion gewahr werden. Schon vorher war mir von anderen Mitgliedern meiner Familie mitgeteilt worden, wie es sich mit seinen derzeitigen Ansichten verhielte, wenn auch eher verhalten und mit der Bitte, ihn lieber nicht darauf anzusprechen. Das Thema hatte schon zu viel Aufregung und Mühe gekostet, als dass es nun wieder auf Neue von mir aufgeheizt werden wollte. Natürlich konnte ich es nicht ruhen lassen. Ohnehin ist es doch meine Aufgabe als Student der Geisteswissenschaften, der die Gender-Pause beim Sprechen benutzt, den weihnachtlichen Familienfrieden zu ruinieren. Trotzdem konnte ich nur schwer mit dem umgehen, was dann auf mich zukam.
H, wissend, dass seine neue Einstellung zur Welt Konflikte mit mir hervorrufen würde, versuchte seine neu erworbenen Kenntnisse über Infektions- und Weltgeschehen erst einmal unausgesprochen zu lassen. Doch das hielt er nicht lange durch. Zu oft sprach man über das Thema und die Politik, und zu groß war der blanke Hass gegenüber der Bundesregierung. Man merkte, wie jede Erwähnung eines Politikers ihn aufwühlte und betroffen machte (vor allem Markus Söder, bei dem wir jedoch nicht ganz ungleicher Meinung sind). Schnell kamen wir in ein angeregtes Gespräch. Meine restliche Familie verabschiedete sich derweil, um einen Spaziergang zu machen. Sie hatten die ganze Diskussion längst satt. Ich fragte ihn aus, ich nahm ihn ernst, hielt mich mit Widerworten erst einmal zurück, und zeigte Interesse an seinen Thesen, wenn man das, was er sagte, überhaupt als solche bezeichnen konnte. Erst sprach er davon, dass man im Grunde gar nicht wisse, ob auch nur eine Person an Covid gestorben sei. Dann davon, dass das Virus nur eine etwas stärkere Grippe sei und dass die offiziellen Daten nicht stimmen könnten. Er konnte mir aus dem Stehgreif Prozentsätze zu bestimmten Zeitpunkten im Pandemieverlauf nennen sowie eine Reihe von Namen von Medizinern und deren Aussagen, die seine Thesen stützten. Leider stellte sich fast alles als widerlegt oder komplett falsch heraus. Als ich ihn fragte, warum er glaube, dass der Großteil der wissenschaftlichen Institutionen so vehement daneben liegen können, wenn es doch die anscheinend so eindeutigen Befunde gebe, die er mir nannte, wurde es ungemütlich und wahnsinnig vage. Dass er nicht auf die Autorität der wissenschaftlichen Institutionen vertraute, wollte er komischerweise nicht zugeben, obwohl dies eindeutig der Fall war. Er versicherte mir, er nehme den wissenschaftlichen Konsens ernst. Covid-19-betreffend offensichtlich aber nicht. Und dann fing er an mir Fragen zu stellen. Ob ich schon einmal vom „Great Reset“ gehört hätte. Ob mir „Event 201“ etwas sage. Schon vor Auftreten des Virus habe es Pandemiesimulationen gegeben und auf dem Weltwirtschaftsforum gäbe es gewisse Absprache. Einen klaren Gedanken wollte er mir nicht erläutern. Ich schaute „Event 201“ und „Great Reset“ und nichts zeugte im Geringsten von der Aufklärung oder vom direkten Zusammenhang mit Lockdowns oder Berichterstattung zu Covid-19. Überhaupt nichts Verdächtiges. „Event 201“ ist eine von vielen Pandemiesimulationen, die seit Jahrzehnten durchgeführt werden, um Aufschlüsse über mögliche Pandemien und deren Bekämpfung zu ermitteln. „Great Reset“ ist nur der naive Vorschlag des Gründers des Weltwirtschaftsforums (WEF) Vincent Schwab, die Krise zu nutzen, um danach eine sozialere umweltfreundlichere Weltwirtschaft zu betreiben, die nicht im Interesse der Großkonzerne steht. Hinter beiden Begriffen verstecken sich aber auch Verschwörungstheorien, die auf vielerlei Art und Weise von einem konzerngesteuerten Verlauf oder Umgang mit der Pandemie ausgehen. Als ich H darauf ansprach und ihn fragte, was er denn denke, was sich hinter diesen Begriffen verstecke, blieb er so vage wie zuvor. Er glaube durchaus, dass viel Leid auf der Erde durch Politik entstehe, die durch Konzerninteressen gesteuert wird, und formulierte lang und breit Beispiele und Argumente für diese Binsenweisheit. Ich fragte ihn, welchen Schluss er nun daraus ziehe, die Pandemie betreffend. Er antwortete, dass Multimilliardäre wie Jeff Bezos und Gates noch mehr Gewinn erwirtschafteten als zuvor, während der Mittelstand leide. Ich stimmte ihm zu und fragte weiter, was das nun mit dem WEF zu tun habe oder mit Event 201. Er stellte eine Gegenfrage: Warum könne jemand wie Bill Gates einfach in den Öffentlich-Rechtlichen sagen, die Pandemie könne erst vorbei sein, wenn alle Menschen geimpft sind? Als ich die Frage an ihn zurückgab, hatte er keine Antwort parat. Erneut fragte ich, wo er denn nun die Verbindung zur Pandemie und den Maßnahmen der Bundesregierung ziehe und wieder fing er an von den reicher werdenden Milliardären zu erzählen. Und so drehten wir uns im Kreis, bis er keine Lust mehr hatte, meinen Fragen auszuweichen. Auch die Texte, die er mir dazu empfahl, waren genauso ohne konkreten Inhalt wie seine Ausführungen. Bis heute weiß ich nicht, was genau sich in seinen Überlegungen verbirgt. Ich weiß nicht, ob er klare Gedanken, Theorien und Schlüsse hat und nur nicht ganz offen mit mir darüber sprechen kann. Oder ob all seine Skepsis nur so oberflächlich und unsicher ist, dass er nicht in der Lage ist, sie wirklich zu erklären.
Seine Weltwahrnehmung zu diesem Zeitpunkt war ganz eigenommen von den unscharfen Unwahrheiten, die sich im digitalen Sud zusammengebraut hatten. Hier ist auch das Phänomen der kognitiven Dissonanz wichtig: der menschliche Verstand ist eher dazu verleitet den unangenehmen Zustand zu vermeiden, der eintritt, wenn eine Information nicht in unser Denkschema passt. Wenn sich Fakten vom vorher Geglaubten unterscheiden, sind wir weniger in der Lage, diese zur Kenntnis zu nehmen, während zustimmende Informationen leicht aufgenommen werden können. Dies ist auch bei H in vielen Fällen zu beobachten. Einen davon will ich erläutern, denn dieser betrifft und enttäuscht mich am stärksten. Als wir auf das Thema Querdenker kamen, erzählte er mir, nicht ganz ohne Zurückhaltung, bei der Querdenkerdemo in Leipzig mitgelaufen zu sein. Einer seiner Kunden habe ihn eingeladen mitzukommen und „er wollte sich das ja mal anschauen“. Ich erinnerte mich an besagten Tag der Demonstration in Leipzig, als viele meiner in der sächsischen Großstadt ansässigen Freunde mir live von der Demo berichtet hatten. Sie waren nämlich die Gegendemonstrant*innen. Ich erinnerte mich an ihre Schilderungen, wie sie gemeinsam in einer großen Gruppe nach Hause gehen mussten, da sie Gewaltandrohungen erfahren und zu fürchten hatten. Ich erinnerte mich an die Bilder und Nachrichten, von den 32 Gewaltvorfällen gegen Journalist*innen. Ich erinnerte mich an den allen Hygienevorschriften trotzenden rücksichtslosen Mob, der, angeführt und verteidigt von randalierenden Rechtsextremen, durch die Straßen zog. Und irgendwo da, befand sich also ein Mensch, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte und liebte, und für einen vernünftigen Menschen gehalten habe. Und dieser vernünftige Mensch erzählte mir nun, er hätte auf dieser Demo keine Rechten, keine Gewalt gesehen. Er könne sich nicht vorstellen, dass es in der Querdenkerbewegung Rechte gebe. Diejenigen, die dort randaliert und geschlägert hätten, gehörten nicht zur Demonstration und deswegen brauche man sich auch nicht davon distanzieren, weil eine Verbindung ja noch nie bestanden habe. Ich könnte noch ewig weitermachen. Ich könnte noch weiter von meinen wechselnden Gefühlszuständen aus Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und überbordender Genervtheit erzählen, als ich mir das Ganze anhörte oder jetzt noch darüber nachdenke. Ich könnte darüber klagen, dass es sicherlich möglich wäre, sein Denken wieder in andere Bahnen zu lenken, würde man nur mehr Zeit, Mühe und Beständigkeit hineinstecken. Und wie mir das nicht möglich ist, da ich mein eigenes Leben in einer anderen Stadt leben muss und meine restliche Familie weder die Kraft noch den Willen hat, dies zu übernehmen. Ich könnte von meinen durchaus begründeten Sorgen berichten, dass die Verschwörungsspirale wie in vielen anderen Fällen auch ihn verschlucken und zu klarer formulierten Ansichten führen kann. Und letztlich auch von meiner kleinen naiven Hoffnung, dass sich das alles nach der Pandemie wieder legen wird und wir wieder einvernehmlich und sorglos miteinander reden können.
- Querdenken in der Familie - 12. Februar 2021
- Digitalenteignung - 12. Februar 2021