Der NC ist unbeliebt, bestimmt er doch scheinbar willkürlich über die Zukunft junger Menschen. Doch erfüllt er eine wichtige sozialpolitische Funktion – der Versuch einer Ehrenrettung.
Fast alle, die ein Studium an einer Hochschule beginnen, begegnen ihm irgendwann, dem Numerus Clausus. Meistens schon vor Beginn des ersten Semesters, wenn es darum geht, den perfekten Studiengang in der schönst möglichen Stadt zu finden. Immer häufiger aber auch auf der Suche nach einem Masterstudienplatz: der Uni-Wechsel nach dem Bachelor ist heute ebenso verbreitet wie die Spezialisierung in eine neuen Fachrichtung.
Besonders bei begehrten Studienplätzen wie Medizin oder Psychologie ist der NC Mittelpunkt erbitterter Diskussionen. Er sei völlig untauglich, die geeignetsten Bewerber:innen für das Studium zu finden. Was sagt schon die Reli-Note in der 11. Klasse darüber aus, wer später eine gute Ärztin oder ein guter Psychologe wird? Richtig, nichts! Das ist aber auch nicht die Aufgabe des NC, für diesen Zweck wurde er nicht geschaffen. Man muss ein wenig zurückblicken in der Geschichte der Bundesrepublik, um den Hintergrund des NC zu verstehen.
Im sogenannten Numerus-clausus-Urteil legte das Bundesverfassungsgericht 1972 den Grundstein für die noch heute bestehende Regelung. Das Urteil besagt, dass alle Inhaber:innen der allgemeinen Hochschulreife sich an einer staatlichen Hochschule ihrer Wahl einschreiben können – das garantiere die im Grundgesetz verankerte Berufswahlfreiheit. Konkret geht es also darum, dass nicht Universitäten sich nach selbst gewählten Kriterien ihre Studierenden aussuchen dürfen, sondern das Abitur (= Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife) die einzige (!) notwendige und hinreichende Bedingung für einen Studienbeginn darstellt. Ausnahmen bilden lediglich künstlerische, musikalische oder sportliche Studiengänge, die für das Studium eine gewisse Eignung prüfen dürfen. Ansonsten gilt, dass Universitäten potentielle Studierende nur aus Kapazitätsgründen ablehnen können. Hier liegt der Ursprung des NC: da das Abitur die zentrale Zugangsberechtigung darstellt, darf bei Knappheit auch nur danach ausgewählt werden.
NC für mehr Bildungsgerechtigkeit
Was heute vielleicht wie eine willkürliche Regelung wirkt, hat ursprünglich vor allem einen sozialpolitischen Hintergrund. Alle Schüler:innen können kostenfrei staatliche Schulen besuchen und dort einen Abschluss machen, ganz unabhängig davon, ob ihre Eltern Migranten sind oder Großgrundbesitzer. Mit dem Abiturzeugnis sind alle gleich, jede:r kann sich an einer staatlichen Universität einschreiben, egal ob vom Privatgymnasium oder aus der Brennpunktschule kommend. Der NC schützt also das Abitur vor der Bedeutungslosigkeit, und soll so den Zugang zu staatlicher Hochschulbildung für alle Gesellschaftsschichten ermöglichen. Denn die berechtigte Befürchtung ist, dass ansonsten bestehende Ungleichheiten nur weiter zementiert werden. Würden die Universitäten ihre Studierenden selbst aussuchen, würden sie zur „Qualitätssicherung“ andere Kriterien erschaffen: von verpflichtenden Vorpraktika und dem Nachweis von Sprachkenntnissen bis hin zu Bewerbungsverfahren mit Eignungstests und Vorstellungsgesprächen. All das bedeutet für Kinder aus bildungsfernen Familien neue Hürden, z.B. zeitliche und finanzielle Investitionen. Wenn die eigene Familie auf staatliche Hilfe angewiesen ist, besucht man nicht monatelang einen privaten Vorbereitungskurs um mit ungewissem Ausgang an Einstellungstests teilzunehmen. Das Abitur wird so gewissermaßen zum Retter der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland erhoben: obwohl föderalistisch, subjektiv (und sowieso unfair)- esbleibt der kleinste gemeinsame Nenner, der unter staatlicher Kontrolle steht und (in einer zugegebenermaßen nur idealen Welt) allen gleichermaßen zugänglich ist. Die Kernidee: Der Zugang zu den staatlich subventionierten Hochschulen darf nicht noch stärker vom familiären Hintergrund abhängig werden, vor allem nicht vom Bildungsstand oder Engagement der Eltern.
Master mit NC?
Mit der Einführung des zweistufigen Bildungssystems (Bachelor/Master) in Folge der Bologna-Reformen hat die NC Regelung neue Bedeutung gewonnen. Zwar sind die Zulassungsvoraussetzungen kein Teil der eigentlichen Reform gewesen, doch haben immer mehr Universitäten im Zuge der Neustrukturierung neben dem Abitur weitere Bedingungen zur Immatrikulation eingeführt, selbst da, wo eigentlich keine Kapazitätsengpässe zu erwarten sind. Dies betrifft nicht nur Bachelorstudiengänge, sondern auch immer mehr Plätze in Masterprogrammen. Denn während die Rechtsprechung bei Ersterem eindeutiger ist, sind die Regelungen im Master unklar. Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit sollte aber auch hier sein, dass die Abschlussnote im Bachelor das ausschlaggebende Kriterium ist – wenn eine solche Zulassungsbeschränkung überhaupt notwendig ist. Aus Sicht der Universitäten ist es naheliegend, aus Prestigegründen eine Selektion ihrer Masterstudierenden durchzuführen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn sie versuchen, ihre Kapazitäten künstlich zu verknappen oder durch für das Studium eigentlich irrelevante Voraussetzungen Bewerber:innen zu selektieren. Ob man wirklich für ein Masterstudium in Deutschland eine zweite Fremdsprache beherrschen muss oder auch nur den kostenpflichtigen TOEFL-Test bestanden haben muss, ist durchaus fraglich.
Es ist nachvollziehbar, dass man als Aspirant:in auf einen Studienplatz alles dafür tun möchte, um die eigene Eignung unter Beweis zu stellen. Da wirkt die starre Konzentration auf den Notenschnitt oft als aus der Zeit gefallen. Der NC hat definitiv große Schwachstellen, alleine schon die unterschiedlichen Abiturprüfungen in den Ländern führen den Gleichheitsanspruch ad absurdum. Dennoch erhält er Transparenz bei der Vergabe von Studienplätzen und verhindert, dass Abiturient:innen sich wie auf dem Arbeitsmarkt bei ihren künftigen „Bildungsgebern“ bewerben müssen. Dazu kommt, dass das eigentliche Problem nicht im Auswahlverfahren liegt, sondern an der Notwendigkeit eines solchen. Eine Ausweitung des Lehrangebots durch bessere finanzielle Ausstattung der Hochschulen würde die Situation entschärfen. Zugleich sind die Universitäten in der Pflicht, besonders in ihren Masterstudiengängen ihren öffentlichen Bildungsauftrag ernst zu nehmen und Lehrkapazitäten möglichst vielen zur Verfügung zu stellen, statt auf Profilierung aus zu sein.
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