Buchrezension – Margaret Atwood erschafft in ihrem Roman The Handmaid’s Tale eine Parallelwelt, die ebenso anzieht wie abstößt. Ein Leseerlebnis irgendwo zwischen Faszination, Schock und Mitgefühl.
von Antje Behm
Wie viel Leid darf einem Individuum zugefügt werden, um die Gesellschaft als Kollektiv nach vorne zu bringen, ja geradezu zu retten? Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale ist jetzt gerade aktueller denn je. Ursprünglich im Jahr 1985 veröffentlicht, 1990 verfilmt und seit 2017 als Serie aufbereitet erzählt das Buch die Geschichte einer Katastrophe, die zum Alltag wird. Umweltsünden haben dazu geführt, dass viele Menschen in den vereinigten Staaten von Amerika unfruchtbar geworden sind, es werden kaum noch Kinder geboren. Eine religiöse Gruppierung ergreift die Macht und führt eine absurde Gesellschaftsordnung ein, in der Frauen nicht lesen dürfen und jeder Stand seine eigene Kleidungsfarbe zugeordnet bekommt. Die wenigen fruchtbaren Frauen werden in der neu entstandenen Republik Gilead zu Handmaids – augenscheinlich der Stolz der Nation sind diese Mägde Sklavinnen, die einmal im Monat in einer Zeremonie vergewaltigt werden und ihren eigenen Namen nicht mehr tragen dürfen.
Die große Stärke von Atwoods Schreibstil ist eine Nüchternheit, die Platz für eigene Empfindungen lässt. Die Hauptperson, eine Magd mit dem Namen Offred, benannt nach ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Besitzer Commander Fred, nimmt den Leser ganz selbstverständlich mit in ihr Leben. Indem sie immer wieder in der Zeit zurück springt versucht sie gar nicht erst zu verheimlichen, dass sie eine ganz normale Frau mit ganz normalen Ecken und Kanten war. Genau das macht sie so sympathisch. Dieselbe Nüchternheit erscheint aber zwischenzeitlich fast als Resignation und steht in starkem Kontrast zu den starken Emotionen, die die Berichte über Hinrichtungen und stille Kämpfe im Leser auslösen. Nach 303 Seiten Gefühlschaos und Spannung ist es frustrierend, als der Roman mit einem offenen Ende schließt.
Umso größer war die Freude für alle Atwood-Fans, als sie im Jahr 2019 die Fortsetzung The Testamentsveröffentlicht. Das Buch spielt 15 Jahre später und ist aus der Sicht von drei Frauen erzählt. Diese Aufteilung mit wechselnden Sprechern sorgt dafür, dass das resignierte Gefühl des ersten Buches nicht entsteht und verspricht so durchgehend Spannung.
Zum Teil abstrakt, zum Teil erschreckend realitätsnah, verhandelt Atwood in beiden Büchern durch ihre weiblichen Charaktere Themen, die auch die aktuelle Gesellschaft beschäftigen. Berufstätigkeit und Bildung von Frauen, die Frau als Hüterin der Fruchtbarkeit und des Lebens, das Patriarchat und der Preis für Glück und Überleben. Sowohl The Handmaid’s Tale als auch The Testaments sind bunte Sträuße an politischen und feministischen Themen. Der Leser ist dazu aufgefordert selbst zu denken und erhält gleichzeitig genau die richtige Dosis Liebe. Eine Pflichtlektüre für die häusliche Quarantäne.
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