Bericht von einer Insel, auf der die Hoffnung auf bessere Zeiten zu schwinden scheint.
Die Türkei ist von der Küste aus gut zu erkennen, an manchen Stellen ist das Meer kaum acht Kilometer breit. Zu Tausenden kamen die Geflüchteten im Frühjahr 2015 an den Stränden an, jeden Tag. Die Insel ist fast zur Hälfte vom türkischen Festland umgeben, über die Küstenstraße machten sich die Gestrandeten auf den Weg in die Ortschaften. Damals herrschte Ausnahmezustand, es kamen so viele Menschen über das Meer nach Lesbos wie nie zuvor. Die Lage der Insel macht sie zu einem neuralgischen Punkt auf dem Weg nach Europa. Einheimische berichten, es habe immer schon Menschen gegeben, die hier versucht haben, nach Griechenland zu kommen. Bereits seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 landeten immer wieder Boote an den Stränden, erste Hilfsinitiativen gründeten sich, um die Geflüchteten mit dem Nötigsten zu Versorgen und nach Mytilene zu bringen. Doch die Ereignisse im Jahr 2015 überforderten alle – eine Katastrophe bahnte sich an, für die Geflüchteten ebenso wie für die Insel.
Als im Winter vor fünf Jahren die Zahl der gestrandeten Menschen wuchs, kamen auch immer mehr Hilfsorganisationen wie das UN- Flüchtlingshilfswerk oder NGOs vom europäischen Festland – zu einer Zeit, in der die Insel normalerweise im Winterschlaf liegt. Die Stimmung unter den Einheimischen war dementsprechend positiv, denn die freiwilligen Helferinnen und Helfer brauchten Betten in Hotels, besuchten Restaurants und Bars. Auch die Asylsuchenden kauften Lebensmittel und Hygieneartikel in den kleinen Shops, denn die Versorgung durch die NGOs reichte nicht immer aus. Die Hilfsbereitschaft war groß. Im Frühjahr und Sommer kamen auch noch immer einige Touristen, halfen zum Teil bei der Versorgung mit. Die damals errichteten Lager dienten nur der Registrierung, die Menschen verließen die Insel schnell wieder gen Festland. Mit dem EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahr 2016 änderte die Lage sich allerdings, der große Ansturm war vorbei. Die europäische Grenzschutzmission der Frontex überwacht seitdem verstärkt das Meer, die Fregatten liegen in den Häfen und Buchten, täglich fliegen bis heute Helikopter die Küste ab. Die NGOs zogen sich größtenteils nach Mytilene zurück, in die Nähe des Camps in Moria. In den Dörfern blieben mit den Geflüchteten aber auch die Touristen weg. Die anfängliche Euphorie kippte nicht nur in Deutschland, und Lesbos wurde mit seinem Lager zum Symbol für die Schrecken der Flüchtlingskrise. Seitdem kommt nur noch ein Bruchteil der Urlauber nach Lesbos, alternative Inseln in der Ägäis gibt es reichlich. Seit fünf Jahren ist dies nun schon so, und es gibt wenig Hoffnung auf Besserung.
Auch die politische Lage im Lande ist schwierig. Im Sommer 2019 wurde bei den Parlamentswahlen die linke Regierung von Alexis Tsipras durch den konservativen Ministerpräsidenten Mitsotakis abgelöst. Er hatte im Wahlkampf versprochen, die Lager auf den Inseln aufzulösen und damit auch die Stimmen der Menschen auf Lesbos gewonnen. Doch passiert ist nichts, im Gegenteil: seit dem Amtsantritt seiner Regierung wurden kaum noch Anträge bearbeitet, niemand durfte die Insel mehr verlassen und das Lager wurde immer voller. Bis zu 20 000 Asylsuchende hielten sich dieses Jahr dort auf, unter katastrophalen Umständen.
Im Frühjahr wurden Pläne der Regierung aus Athen bekannt, ein neues Lager in der Region Karavas zu errichten. Die Bevölkerung reagierte mit massiven Protesten, es kam zu Ausschreitungen gegen die Polizei, die wiederum Tränengas einsetze. NGOs, die gegen ein neues, geschlossenes Lager protestierten, bildeten gemeinsam mit wütenden Inselbewohnern eine unheilvolle Koalition, die letztlich den Neubau verhinderte. Spätestens seit diesem „Erfolg“ ist die Stimmung äußerst angespannt. Rechte Gruppierungen nutzen die Wut der Griechen für ihre Zwecke aus und unterwandern die Proteste: die Geflüchteten in den Lagern werden zum Sündenbock für alle Probleme der Insel. Aus Sicht vieler Bewohner tragen sie die Schuld für die wirtschaftliche Misere, die sich durch die Corona-Pandemie nur noch weiter verschlimmert hat. Ohne Tourismus bangen viele um ihre Existenz. Das totale Versagen der Machthaber in Athen, Brüssel und anderen Hauptstädten kocht sich auf dieser Insel zu einem Konflikt zusammen, bei dem es nur noch zwei Seiten gibt. Jeder, der den Status Quo erhält, wird zum Feind. Die Logik: die Asylsuchenden müssen die Insel um jeden Preis verlassen. Wer ihnen die dringend benötigte Hilfe leistet, erlaubt es der Regierung in Athen, die Camps weiter aufrechtzuerhalten, ohne sich kümmern zu müssen. Eine menschenverachtende Ideologie, bei der das Wohlsein der Flüchtlinge als Druckmittel eingesetzt wird. Doch in ihrer Perspektivlosigkeit sehen viele Inselbewohner keinen anderen Ausweg. Spätestens seit der der letzten Wahl ist die Botschaft aus Athen deutlich: die Lager bleiben.
Das hat auch Konsequenzen für die Arbeit der NGOs. Eine lokale Hilfsinitiative schreibt auf ihrer Website, neben Spenden könne man derzeit am einfachsten helfen, indem man den nächsten Urlaub auf Lesbos buche. Ginge es der Insel besser, wäre auch ihre Tätigkeit vor Ort einfacher. Denn es wird zwar nicht gerne offen darüber gesprochen, doch viele ausländische Freiwillige fühlen sich bedroht, man- che haben die Insel deswegen schon verlassen. Auch Griechen bekommen das zu spüren: in manchen Orten wurden nachts Häuser mit Drohungen beschmiert, in denen engagierte Familien wohnen, die sich für die Geflüchteten einsetzen. Gastwirte werden unter Druck gesetzt, wenn sie NGO-Mitarbeitende bei sich einkehren lassen – geschweige denn Geflüchtete bewirten. Man solle sich besser nicht einmischen, heißt es auch gegenüber anderen Europäern, die hier ihren dauerhaften Wohnsitz hin verlegt haben. Es gehe andere nichts an, das sei die Sache der Inselbewohner. Und das ist dann die gut gemeinte Warnung. Offen etwas gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Lagern zu sagen, trauen sich hier nur wenige, zu groß ist der Druck in der Gemeinschaft. Zu groß sind auch oft Wut und Verzweiflung, die sich statt gegen die Regierung auf die Geflüchteten richtet. Es gibt ein Feindbild und die Abschreckung wirkt.
Selbst wenn es eines Tages eine Lösung für die Migrationsfrage in der EU geben wird, wonach es derzeit nicht aussieht, und die Camps in Moria oder Kara Tepe wie Schreckgespenster der Vergangenheit wirken; selbst dann wird der Konflikt in der Bevölkerung nicht einfach verschwunden sein. Denn die Frage, wie man mit den Asylsuchenden „vor der eigenen Haustüre“ umgeht und umgegangen ist, wird sich jeder stellen müssen. In Gesprächen mit engagierten Leuten wird immer wieder deutlich, wie sich das Klima schon jetzt spürbar gewandelt hat. Es sind nicht nur offene Drohungen oder Schmierereien, sondern auch Details im täglichen Leben: argwöhnische Blicke, abweisende Gesten. Verlorenes Vertrauen zwischen Nachbarn, Freunden und Bekannten wieder aufzubauen wird daher eine große Her- ausforderung bleiben.
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