„Es ist ein bisschen so, wie wenn man Tischler ist und plötzlich nur noch Särge fabriziert“

Foto: Sheila Ranglin, London

Ulf Erdmann Ziegler wurde 1959 in Neumünster geboren. Seit 2007 veröffentlichte er fünf literarische Bücher, davon drei Romane, war 2012 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Er wohnt in Frankfurt am Main. Ziegler spricht langsam und genau und zieht dabei manchmal Wörter in die Länge, um das Denken zu überbrücken. Ein Schriftsteller über das Schreiben. „Es ist ein bisschen so, wie wenn man Tischler ist und plötzlich nur noch Särge fabriziert“.

Interview von Johannes Rehlinger

Als erstes würde ich gerne wissen, wann du angefangen hast, literarisch zu schreiben?

Mit 14. Da wollte ich einen Roman über meine sterbende Tante in der DDR schreiben und hab mir erstmal ein Titelbild gezeichnet. Ich dachte so fängt man an. Und da drauf stand: Hier stirbt ein Mensch. Das war der erste Versuch, der dauerte natürlich nur wenige Seiten.


Dein Protagonist Hermann möchte seine Kindheit aufschreiben. Wie nah kann man denn an das Autobiografische herantreten, ohne seine Neurose aufzuschreiben?

Ohne? Gar nicht! Nein, du musst natürlich deine Neurose aufschreiben!

Das ist das Ziel?

Das ist das Ziel, ja. Na gut, andere Schriftsteller sehen das anders, die sagen, wenn es um das Kaputte geht, dann schreibe ich nicht über das Kaputte in mir, sondern über die Kaputtheit der Welt. Oder es gibt Schriftsteller, die sagen, ich bin so kaputt, dagegen ist eine Neurose bürgerlicher Pipifax, damit beschäftige ich mich gar nicht erst. Aber ich bin Freudianer und meine, dass die Neurose ein Prisma ist, durch das man in das Leben hineinblickt. Muss ja nicht die eigene Neurose sein, es können auch Neurosen anderer sein. Dafür muss man dann sehr genau beobachten. Man muss vor allem zuhören können! Ganz im Prinzip glaube ich, dass man als Schriftsteller durchs Zuhören am meisten lernt. Heute bin ich für dich am Telefon, das ist eine andere Rolle. Aber das Zuhören bringt die Geschichten. Ich bin fünfzehn Jahre getrampt – mit fünfzehn angefangen und mit dreißig aufgehört – und hab neben ganz vielen Leuten gesessen, die fahren mussten, das heißt, sie konnten mich nicht angucken. Und was die mir erzählt haben, das habe ich abgespeichert. Was ich über Handelsvertreter und Firmenchefs weiß, das kommt daher.

Du hast ja auch mehrere Geschichten aus der Perspektive einer Frau geschrieben.

Tatsächlich ist es doch so, dass man sich selbst nicht komplett sehen kann. Zum Beispiel von hinten. Während man, wenn man mit einer Frau zusammenwohnt, sie aus allen Perspektiven kennt. Das heißt, man kennt ihren Körper, aber vielleicht auch mehr als ihren Körper, ihre Seele vielleicht, in der Anschauung von 360 Grad. Das bedeutet natürlich nicht, dass man seine Mädchen- oder Frauenfigur schon gefunden hat. Aber die Identifikation mit jemandem, der täglich bei einem ist, ist viel prägender als der Blick auf sich selbst.

Wie weit geht das, sich in eine Person reinzuversetzen, die man schlicht nicht ist, oder nicht kennt?

Man spaltet von sich selbst etwas ab, was die Stimme ist, diese Stimme, das weiß jeder Literat, muss die eigene werden. Das heißt, das Geschriebene ist noch eigen und gleichzeitig schon öffentlich. Also spaltet man das von sich ab, was professionell ist. Aber das ist jetzt gar nicht spezifisch der Schriftsteller, das müssen Ärzte und Kaufleute und Juristen auch tun. Die können auch nicht in jeder Situation Segler oder Papa sein. In der Berufssituation muss der Arzt eben Arzt sein. Die Identifikation mit dem anderen ist auf jeden Fall sinnvoll. Wir hatten zum Beispiel einen Arzt, der konnte Schmerzstellen im Rücken einfach wieder einrenken, durch eine kleine Bewegung, aber mit Kraft. Und ich denke, dass ist es ungefähr, was man als Schriftsteller leisten muss.

Inszeniert man sich auch selbst, wenn man schreibt, in der Öffentlichkeit?

Im Essay mehr als im literarischen Text. Der literarische Text ist eher ein Versteckspiel. Also in dem Moment, wo ich eine Figur erfinde, die nicht ich bin, die vielleicht weiblich ist und aus Israel kommt, habe ich ja weit ausgegriffen. Indem sie Charakter annimmt, schaue ich schon nicht mehr auf mich. Zum Beispiel, wenn ihr jemand sagt, sie habe „keine Bremse eingebaut“, da wird sie ziemlich eigen. Da sind wir wieder bei der Frage des Blicks auf den anderen. Kann ich mich selbst sehen, nein, meinen eigenen Hinterkopf kann ich nicht sehen; aber die anderen kann ich umso genauer sehen, und ich will diesen Weg der Einfühlung gehen. Nicht als Selbstzweck, sondern um bei einem plausiblen Narrativ herauszukommen. Das ist mein persönlicher Weg. Das heißt aber nicht, dass ich weichgewaschene psychologische Literatur schreibe, ich darf auch sarkastisch sein, listig, spitz. Ich wohne im Hochparterre und schreibe in einer Mansarde. Mein Ich wird quasi auf den vier Stockwerken, die es braucht, um oben anzukommen, immer transparenter. Und wenn ich dann den Laptop aufklappe, bin ich in dieser anderen Welt und die muss wirklich anders sein und nicht einfach eine verstellte Kopie meiner selbst. Ein Selbst, das ich in Wirklichkeit öffentlich vorzeigen wollte – oder inszenieren, wie du sagst. Das würde ich für kein gutes Motiv halten, literarisches Schreiben zu beginnen.

Musstest du das üben, in eine andere Welt zu gehen?

Das musste ich üben, ja. Der erste Roman hat vier Jahre gedauert, und das war eine harte Schule im Finden dieser anderen Stimme. Und diese andere Stimme ist eben eine, die in Wirklichkeit auch Augen hat und diese Augen gucken eben auf die Welt der anderen.

Das heißt, du würdest nicht sagen, dergleichen sei eine Gabe?

Gabe? Naja, das ist natürlich gegen alle gängigen Sozialtheorien, mit denen wir aufgewachsen sind. Wo wir immer glaubten, dass man im Prinzip alles lernen kann, wenn man nur die Chance dazu hat. Ich glaube, es ist zur Hälfte Gabe und zur Hälfte Wille. Denn wenn man Schriftsteller wird, macht man ja etwas sehr Bedenkliches. Es ist ein bisschen so, wie wenn man Tischler ist und plötzlich nur noch Särge fabriziert, oder wenn man Bildhauer wäre und nur noch Grabsteine meißelte. Also eine randständige Spezialisierung. Es ist ein enges Gewerbe, das in einer unsichtbaren Nische der Gesellschaft stattfindet. Und das muss man überhaupt erstmal wollen. Nochmal zurück zur Frage des Abspaltens, die wir vorhin hatten: Ich musste lernen, dass der Professionalismus des Schreibens aus einer Abspaltung gewonnen wird. Ich hatte nämlich, als ich anfing, meinen ersten Roman zu schreiben, das Ziel, Schreiben und Leben in Einklang zu bringen. Ich dachte, wenn der Roman fertig ist, kommt alles full circle. Und erst, als der Roman – er hieß „Hamburger Hochbahn“ – raus war, und die ersten Kritiken erschienen waren, merkte ich, dass die quälenden Fragen des Lebens durch Literatur nur in soweit beantwortet werden können, als man eine tiefere Betrachtung ermöglicht. Aber es ist nicht so, dass sie dadurch, dass sie gut erzählt sind, sich in Luft auflösen. Man wird nicht durch schreiben glücklich. Insofern glaube ich, dass das literarische Schreiben zwar zurecht ein Mythos ist, aber der Mythos zugleich…. Nein ich nehme das zurück! Es ist nicht zurecht ein Mythos, es ist zu Unrecht ein Mythos! Es ist überschätzt. Also Leute machen sich die tollsten Vorstellungen davon, was das ist und ich habe beobachtet, dass die meisten Künstler, auch wenn sie es eigentlich geschafft haben, gerne etwas anderes wären. Maler, die gern Schriftsteller geworden wären. Aber warum? 

Was ist dein Ziel, wenn du schreibst?

Da muss ich zen-buddhistisch antworten: Der Weg ist das Ziel. Außer natürlich, ganz pragmatisch, fertig zu werden. Und auch das ist eine Kunst für sich: zu wissen, wann ein Text fertig ist.

Aber du würdest nicht für die Schublade schreiben?

Nee, ich will publiziert werden. Ich will auf keinen Fall für die Schublade schreiben!

Warum nicht?

Weil schreiben keine Therapie ist. Das Schreiben ist nicht für mich. Es ist ein Akt der Vermittlung. Also, warum sollte man es zu seinem Beruf machen zu sprechen oder zu schreiben, was sich sehr nahe ist, wenn man nicht wollte, dass die Menschen einem genau darin folgen?

Also geht es darum, sich verständlich zu machen?

Ja, es geht darum, sich verständlich zu machen. Und dafür braucht man eine erzählerische Matrix. Die Qualität dieser Matrix beruht darauf, ob man seine Stimme findet.

Geht es dann auch darum verstanden zu werden?

Ich habe in der Tat die Kritiken seit meinem ersten Roman aus einem bestimmten Anlass nochmal gelesen neulich. Und ich muss sagen, dass ich zutiefst gerührt bin, wie erst noch aus so einer gewissen Befremdung heraus, doch die Kritik immer näher heranrückt. An mein Sehen, meinen Ton, meine Witze, den Abgrund meiner Texte. Und am Ende, also die letzte richtige Kritik hat glaube ich sowas gesagt wie, dass das sogar sein könne, dass meine Texte letztendlich gar keinen Gegenstand hätten. Sie wären geheimnisvoll und man würde doch dazu neigen, zu einer mehrfachen Lektüre. Das habe ich dann in mehreren Kritiken gefunden, ähnliche Beobachtungen. Und da fühle ich mich natürlich ungeheuer geehrt, weil ich da im Grunde auf der Seite der Abstraktion angekommen bin. Und ich habe schon geahnt, dass ich dahin wollte. Ich habe aber gewusst, dass ich nicht opake Gedichte schreiben möchte, die keiner versteht, um zu beweisen, dass in der Sprache der Abgrund des Lebens zu finden ist, sondern ich wollte etwas flüssiges und verständliches schreiben, mit derselben Absicht, das Unsagbare auszuloten. Und wenn die Kritik natürlich sagt, das hat der hingekriegt, dann ist in gewisser Weise – weil du nach einem Ziel fragst – das Ziel erreicht.

Hanno Rehlinger
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