„Märchen sind nicht für Kinder zum Einschlafen gedacht, sondern für Erwachsene zum Aufwachen“ – Märchenforscher Roman Söllner im Interview mit dem Falter
Das Interview führte Lena Fiala
Roman Söllner (53) aus Nürnberg kennt sich mit Helden und Halunken aus. Seine Leidenschaft gilt den Märchen: seit über 15 Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der Interpretation und Symbolik dieser Geschichten und gibt regelmäßig Vorträge zum Thema. Im Gespräch erfahren wir, dass Märchen viel näher an uns dran sind, als wir auf den ersten Blick meinen.
Roman, woher kommen dein Interesse und deine Expertise zu Märchen?
„Märchen begleiten mich schon seit meiner Kindheit, auch meine Eltern haben sich dafür interessiert. Die simple Einteilung der Märchenfiguren in Gut und Böse in den psychologischen Märcheninterpretationen, die wir zu Hause im Regal hatten, hat mich allerdings nie zufrieden gestellt. Deshalb habe ich angefangen, selbst zu recherchieren. Seit etwa 10 Jahren gebe ich regelmäßig Lesungen, die von allen Altersgruppen besucht werden. Demnächst soll auch mein Buch zum Thema erscheinen.“
Viele Erwachsene würden vielleicht sagen, Märchen seien nur erfundene Geschichten für Kinder – warum ist es trotzdem wichtig, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen?
„Ja, das ist die gängige Meinung: Märchen sind für Kinder (lacht). Diese Vorstellung kommt vor allem daher, dass die Gebrüder Grimm sogenannte ‚Kinder- und Hausmärchen‘ gesammelt haben und sie so verändert haben, dass sie mit den gesellschaftlichen Normen vereinbar waren. Märchen sind nicht für Kinder zum Einschlafen gedacht, sondern für Erwachsene zum Aufwachen – dieser Satz von Jorge Bucay fasst die wahre Bedeutung der Märchen gut in Worte. Sie erzählen von Initiationswegen, also Reifeprozessen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchmachen muss.“
Was hat es damit auf sich?
„Oft handelt es sich um die beginnende Pubertät: die Loslösung vom Elternhaus, auf die eine Phase der Einsamkeit und Isolation folgt. Schließlich findet ein Individuationsprozess statt. Weißt du eigentlich, wer du bist? Was sind deine Fähigkeiten? – das gilt es hier herauszufinden. Diese Abläufe haben viel mit den Riten von Naturvölkern gemeinsam. Denn erst, wenn du dich selbst kennen gelernt hast, kannst du eine Bereicherung für die Gesellschaft sein.“
Wodurch wird ein Märchenheld zum Helden?
„Der Held braucht immer einen Anlass zum Aufbruch, z.B. möchte er die Prinzessin des Königs erobern. Auf seinem Weg muss er viele Prüfungssituationen meistern, dabei hat er aber Helfer. Und das sind oft die unscheinbaren Wesen, von denen man es am wenigsten erwartet. Da sitzt dann ein Zwerg am Wegesrand und hat Hunger. Welche Reaktion zeigt der Held? Hat er wirklich ein gutes Herz oder ist er nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht? Der Eigenanteil des Helden liegt vor allen Dingen darin, Ja zu sagen zu diesen Aufgaben, den Mut und das Vertrauen zu haben, dass alles gut gehen wird.“
Was können wir daraus lernen?
„Die Frage ist, wie wir mit Rückschlägen umgehen. Empfinden wir sie als verlorene Zeit? Sind wir dazu bereit, einen Umweg zu gehen? Märchen zeigen uns, dass es oft die Umwege sind, die sich lohnen. Sie erweitern unseren Erfahrungsschatz, machen unsere Persönlichkeit ganz. Sie füllen sozusagen unseren Werkzeugkasten fürs Leben, auch wenn sich uns der Sinn des Ganzen vielleicht erst viel später erschließt. Im Grunde gibt es also keine falschen Entscheidungen, weil man aus jeder Situation etwas mitnimmt. Märchen laden uns dazu sein, uns öfter mal etwas zuzutrauen.“
Gelingt die Aufgabe des Helden immer?
„Nein, es gibt viele Märchen, in denen der Reifungsweg nicht ganz so verläuft, wie gedacht. Ein Beispiel dafür ist „Rapunzel“. Das im Turm lebende Mädchen ist ein Bild für die Trennung der Geschlechter, bis sie reif genug füreinander sind. Die Zauberin, so heißt es im Märchen, unterweist Rapunzel in allen wichtigen Dingen, sie lehrt ihr also, was es heißt, Frau zu sein. Durch das Eindringen in den Turm bricht der Prinz also ein Tabu – alles hat seine Zeit, aber die beiden konnten nicht warten. Rapunzel wird in die Wüste geschickt, aber nicht, um dort eine Strafe abzusitzen – das ist die gängige Annahme meiner Zuhörer bei den Lesungen – sondern, um nachzureifen. Wird der Reifeprozess zu früh abgebrochen, müssen wir ihn später nachholen. Das gibt es nicht nur im Märchen, sondern auch im Leben.“
Unsere Ausgabe dreht sich um Helden und Halunken. Können Märchenhelden zugleich Halunken sein?
„Dieser Titel gefällt mir sehr gut (lacht). Ja, allerdings. Aber die Halunkenart ist im Märchen nicht verwerflich – ganz im Gegenteil: sie wird mit Weisheit belohnt. Das befreit die Erzählungen auch von ihrem moralischen Zeigefinger. Denn sein Köpfchen anzustrengen, um eine List anzuwenden, einmal nicht den geradlinigen Weg zu gehen, sondern seinen eigenen Umgang mit festen Regeln zu finden und nicht immer konform zu gehen – dazu möchten uns Märchen ermutigen. Außerdem: Was wären Märchen ohne Halunken? Sie geben den Geschichten erst die Würze.“
Isolation ist ein Phänomen, das aktuell viele Menschen beschäftigt. Welche Bedeutung kommt der Isolation in Märchen zu?
„Die Isolation ist ein ganz wichtiges Element. Kannst du auch mal leben ohne Ablenkung? Hältst du es mit dir selbst aus? – Auch Rapunzel erfährt diese Einsamkeit. Für die einen ist das heute Digital Detox, für andere das Gehen des Jakobswegs. Was zählt, ist mit den eigenen Gedanken und Wertungen klar zu kommen und Durchhaltevermögen aus sich selbst heraus zu schöpfen. Wenn du mit dir selbst gut leben kannst, hast du den größten Schatz gehoben, den du erlangen kannst. Und die Entwicklungen, die du durchgemacht hast, machen dich attraktiver als alle materiellen Dinge, die du besitzt. Unsere momentane Situation scheint zwar nicht entwicklungsfördernd zu sein, aber wenn wir uns darauf einlassen, kann sie durchaus positive Veränderungen in unserem Leben herbeiführen.“
Weitere Informationen zu Roman Söllner, seinem Buch und den (momentan Online-) Lesungen unter:
- Ein Foto für die Ewigkeit - 13. Dezember 2022
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