Warum die Regierung auf ihre Worte achten sollten und wir auf unsere Taten
Von Hanno Rehlinger
Trommler sitzen auf den Steinen und unterlegen den ersten warmen Tag mit einem lässigen Rhythmus. Um sie herum sind die Wiesen geflutet mit Menschen. Sie sitzen zu zweit auf Decken; lesen, kiffen und plaudern. Es ist wie jeder andere Frühlingstag im Berliner Mauerpark, nur ohne Konzerte. Durch die Menschenmenge fährt ein Mannschaftswagen der Polizei. Aus einem Megafon schallt die Aufforderung vorsichtig zu sein und möglichst 1,5 m Abstand zu halten. Sie erinnern an die Gefahr des Virus und bedanken sich am Ende noch höflich für die Aufmerksamkeit. Die Leute auf den Rängen des Freilufttheaters applaudieren. Dann wenden sich alle wieder ihrem Zeitvertreib zu.
Zur gleichen Zeit werden in Bayern andere Seiten aufgezogen. Söder hat sich zum 1. Mann im Viruskampf ernannt. In München fahren Polizei und Feuerwehrautos durch die Straßen und mahnen die strenge Ausgangssperre: „Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!“. In der schönen Bayreuther Wilheminenaue spielt sich eine ganz ähnliche Szene ab. Mit einem entscheidenden Unterschied. Hier schickt die Polizei rigoros alle Frühlingsgenießer nach Hause: Ja, auch die allein Lesende da ganz untern solle jetzt bitte gehen.
Niemand weiß welche Maßnahmen die richtigen sind, welche Strenge genügt. Bayern hat immer noch die höchsten Fallzahlen, die meisten Toten und auch den höchsten Druck. Aber hier geht es nicht um Maßnahmen, hier geht es um die Rhetorik, mit der der Staat und seine Exekutive sie vermitteln. Überall auf der Welt werden Stimmen laut, die manchmal polemisch, manchmal sorgenvoll vom Faschismus sprechen. Die Rede ist von einem Dammbrucheffekt, einer Kriegsrhetorik oder ganz sachlich von einem Aufgeben der Grundrechte.
Diese Stimmen mögen manchen befremdlich vorkommen. Gerade weil es sich ja um eine Bedrohung handelt, die uns alle eint. Was sollen wir sonst tun? Sollen wir tausende Menschen sterben lassen, nur um unsere Prinzipien nicht anzutasten? Befremdlich hin oder her, diese Stimmen sind wichtig. Es sind diese, in unseren Grundrechten garantierten Werte, die uns zusammenhalten. Ihre Unantastbarkeit ist die Basis von Einigung und Gerechtigkeit. Deshalb ist es gefährlich sie in eine Kosten-Nutzen-Rechnung zu integrieren.
Um den Dammbrucheffekt aufzuhalten, müssen wir unterscheiden können: Von einer Situation, in der die Einschränkung dieser Werte gerechtfertigt ist und den vielen Situationen, in denen das nicht der Fall ist. Die Beweggründe sind dabei ein entscheidendes Kriterium. Menschenleben zu retten und dabei die Schwachen zu schützen ist ein triftiger Grund. Die Kriminalitätsrate zu senken nicht.
Genau deshalb ist die Rhetorik heute wichtiger denn je. An der glücklichen Aussage Söders, dass die Einbruchsrate um 80 Prozent gefallen ist, ist nichts Falsches. Aber sie legt einen Beweggrund für die Maßnahmen nahe, der nicht gerechtfertigt ist. Genauso wie die Kriegsrhetorik, die ja nicht nur in Bayern, sondern auf der ganzen Welt großen Anklang findet. Wir sind aber nicht im Krieg, wie der Berliner Bürgermeister treffend feststellte. Es ist wichtig, nicht das Gefühl zu vermitteln der Staat habe das gute Recht unsere Freiheit einzuschränken.
Wir müssen zeigen, dass sich die Einschränkungen aus eben jenen Werten ableiten lassen, die wir bedroht sehen. Die Maßnahmen aufzuheben würde bedeuten die Schwachen und Kranken einer enormen Gefahr auszuliefern. Es ist die Solidarität, die diese Maßnahmen gebietet. Es muss klar sein, dass wir freiwillig einige Werte vorübergehend einschränken, um andere zu priorisieren, weil wir uns in einer Situation wiedergefunden haben, in der wir nicht allen gleich gerecht werden können. Diese Entscheidung ist eine mutige, solange sie nicht durch Autorität erzwungen wird. Nicht wegen „harter Strafen“, sondern aus Anstand bleiben wir Zuhause.
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