Das letzte Werk des Schriftstellers Roger Willemsen blieb unvollendet. In „Wer wir waren“ geht es um alle großen Probleme der Gegenwartsgesellschaft und noch mehr. Es ist der Warnruf eines Intellektuellen.
„Wer wir waren“ hat nichts mit Nostalgie zu tun. Roger Willemsen wirft keinen verklärenden Blick in die Vergangenheit, sondern schaut aus der Zukunft in die Gegenwart. Diese Perspektive manifestiert sich in der Frage: Wer werden wir gewesen sein? Es ist ein Buch, das so, wie es gedacht war, nie geschrieben wurde. Der Schriftsteller arbeitete intensiv an dem Werk, bis er im Sommer 2015 von seiner Krebserkrankung erfuhr. Die Gedanken, aus denen er das Buch schaffen wollte, trug er unter dem Titel „Zukunftsrede“ am 24. Juli 2015 vor Publikum vor. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt. Daraus ist ein schmales Buch entstanden, dessen 60 Seiten die Größe und Schwere der auf ihnen ausgebreiteten Gedanken kaum aushalten.
Willemsens Rückblick beginnt vor sieben Millionen Jahren, als sich die Hominiden von den Affen trennten. Er rauscht durch die Zeit, vorbei an der Erfindung des Smartphones, der Austrocknung der Wüsten und Gletscherschmelzen. Dazwischen die Konsumgesellschaft, umgarnt von Werbung und den Reizen der Digitalisierung. Wenn Willemsen von der Globalisierung redet, schwebt die Apokalypse wie eine bedrohliche Wolke über seinen Worten. Ein Mann, der bald sterben wird, findet harte Worte für unseren Zukunftsbegriff: „Die Zukunft, das ist unser röhrender Hirsch über dem Sofa, ein Kitsch, vollgesogen mit rührender Sehnsucht und Schwindel“.
Schwindelig wird auch den Lesenden. Willemsens Gedanken bilden einen Strom, der uns mit sich reißt und aus dem es kein Entkommen gibt: „Unsere Existenzform ist die Rasanz. (…) Wir erwachen im Goldenen Zeitalter der Ruhelosen und werden sagen können: Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt.“ Es gibt keine Gedankenpausen oder Zwischenüberschriften, keine Dämme, die den Strom zu brechen vermögen. Gewaltige Gedanken prasseln auf uns ein, bevor wir die ersten Zeilen verarbeiten konnten: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst“.
Es ist ihm egal, ob wir seine Worte verstehen. Er will nicht, dass wir uns beim Lesen gut fühlen. Ohne Furcht und Rücksicht drückt uns sein Wortschwall unter Wasser, und wenn wir kurz an die Oberfläche gelangen und nach Luft schnappen, fällt schon der nächste große Begriff: Bewusstsein. Wasserstoffbombe. Entmündigung. Und wir dazwischen, die „umkämpften Abgekämpften“. Dass Roger Willemsen starb, bevor er dieses Werk vollenden konnte, hebt den Text auf eine fast unheimlich mystische Ebene. Seine Worte wirken wie die eines Propheten, der Alarm schlägt und dessen Orakel wir entziffern müssen, bevor es zu spät ist. Dieses Buch ist eine Warnung. Eine Warnung vor uns selbst.
- „Die AfD war damals nicht radikal“ - 31. Mai 2021
- Entwicklung nicht als einseitige Geschichte verstehen - 27. Februar 2021
- „Wir müssen improvisieren“ - 27. Februar 2021