Nachdem ein Reporter über Jahre mit großteils ausgedachten Geschichten betrogen hat, steckt der SPIEGEL in einer tiefen Krise. Ein Plädoyer dafür, dem Nachrichtenmagazin diesen Vertrauensbruch zu verzeihen.
Das erste, was ich sah, als ich diesen Sommer das glänzende SPIEGEL-Gebäude in Hamburg betrat, war der große Schriftzug auf der hellen Steinwand gegenüber vom Eingang: „Sagen, was ist.“ – Das Motto von Rudolf Augstein, dem sagenumwobenen Gründer des SPIEGEL. Es war der erste Tag meines Praktikums in der Redaktion vom Kindernachrichtenmagazin „Dein SPIEGEL“, wo ich nicht nur die bunte Welt des Kinderjournalismus kennenlernte, sondern auch viel über den SPIEGEL-Verlag als Ganzes mitbekam: In Gesprächen im Aufzug, in der Teeküche oder während der wöchentlichen Blattkritik, zu der Medienwissenschaftler, Journalistinnen und Politiker aus dem ganzen Land eingeladen werden.
Man kann dem SPIEGEL einiges vorwerfen: Hierarchische Strukturen, Arroganz, den Kult um Rudolf Augstein, Selbstgefälligkeit, fehlendes Gespür für die junge Generation (bento), ein Ost-West-Problem (große Teile der Leserschaft und Redaktion kommen aus dem Westen) und ein Männer-Frauen-Problem (72 Prozent aller Leser*innen sind Männer). Aber auf eine Sache war immer Verlass: Die gründliche Recherche und abgesicherten Fakten. Oder um es pathetisch zu sagen: Die Wahrheit. Im Kampf gegen Fake-News ist der SPIEGEL ganz vorne dabei. Die Dokumentationsabteilung, intern „Dok“ genannt, ist das Herzstück des Nachrichtenmagazins: Sie besteht aus 70 Dokumentationsjournalist*innen, darunter Juristinnen, Physiker, Bildungsexpertinnen und Historiker. Sie alle sind knallhart skeptisch. Da spielt es keine Rolle, ob es um einen noch so kleinen Info-Text oder Kino-Tipp für das Kindermagazin des Hauses geht. Alles wird bis ins Detail geprüft: „Woher haben Sie das Zitat? Haben Sie persönlich mit der Gründerin gesprochen?“ oder „Über den Krater schreiben Sie besser ‚groß‘ statt ‚riesig‘. Ich habe mir das bei GoogleEarth angeschaut“. Noch Monate nach meinem Praktikum rufen mich Dokumentar*innen in Bayreuth an, um nach der Herkunft von Zitaten für noch unveröffentlichte Texte zu fragen. Wenn ein Artikel dann endlich „durch die Dok“ ist, heißt das so viel wie bombenfest abgesichert, dreifach versiegelt, absolut wahr. Warum ein Journalist also gerade in diesem Haus Märchen veröffentlichen konnte, darf man sich zurecht fragen. Erklärungsversuche wurden sowohl vom SPIEGEL als auch anderen Medien geliefert. Grob gesagt geht es um menschliche Fehlerhaftigkeit, um zu viel Vertrauen und ein Verlangen nach perfekten, preiswürdigen Reportagen auf Seite des SPIEGEL und die außergewöhnliche Bereitschaft von Relotius, sich gegen das grundlegendste journalistische Ethos zu stellen.
Ganz egal, wie gut sich erklären lässt, was hier schiefgelaufen ist – ich bin ich mir sicher, dass der Fall Relotius allen Redakteur*innen beim SPIEGEL unendlich peinlich ist. Denn er zeigt auf, dass das Nachrichtenmagazin in der einen Sache, die ihm immer sicher war, völlig versagt hat. Die Art, wie die Redaktion den Fall öffentlich gemacht hat, wurde zurecht kritisiert, aber darum soll es hier nicht gehen. Trotz ihrer Schwächen zeigt die intensive Aufarbeitung, wie tief beschämt die Redaktion ist, dass ausgerechnet ihnen so etwas passiert ist. Der SPIEGEL steht am Abgrund und weiß das. Allen ist klar, welche fatalen Zeichen dieser Skandal aussendet, während Menschen „Lügenpresse“ schreien und das Wort „Fake News“ es in den Duden geschafft hat. Nicht umsonst hat die Redaktion eine Kommission einberufen, die alle Relotius-Artikel prüfen soll. Teile der neuen Chefredaktion lassen ihre Verträge ruhen, die Printausgabe nach dem Skandal behandelte den Fall auf 21 Seiten, für jeden online kostenlos zugänglich.
Kurz nachdem der Skandal bekannt wurde, habe ich mein SPIEGEL-Abo gekündigt. Meine WG hatte vorher einen Wechsel zur ZEIT beschlossen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich die Kündigungsmail schrieb. „Es hat nichts mit dem Fall Relotius zu tun“, stellte ich klar. Und hier nochmal: Lieber SPIEGEL, es tut mir leid, dass ausgerechnet dir das passiert ist. Ich glaube an dich. An die Dok und an das Genre Reportage. An die investigative Stärke deiner Journalist*innen und daran, dass dein größtes Problem auf lange Sicht immer noch bento ist und nicht ein einzelner Betrüger, dessen Märchen nun zum Glück ein Ende haben.
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